Sozialpolitik:Tränen und Krokodilstränen

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Die Zahl der Kinder, die in Hartz-IV-Haushalten leben, ist gestiegen. Über die Gründe für die wachsende Kinderarmut sind sich Linke, Bundessozialministerin und Ökonomen uneinig.

Von Constanze von Bullion, Berlin

Kinderarmut, das ist ein Wort, das im Koalitionsvertrag nicht vorkommt. Im Bundestagswahlkampf aber wollen SPD, Linke und Grüne mit Forderungen für benachteiligte Kinder punkten. Die Linkspartei, die sich das Thema seit Langem auf die Agenda gesetzt hat, kritisierte am Montag die Untätigkeit der Bundesregierung bei der Bekämpfung der Kinderarmut. Dabei bezog sie sich auf Zahlen der Bundesagentur für Arbeit (BA), die zunächst der Deutschen Presseagentur vorlagen. Demnach ist die Zahl der Kinder, die in Hartz-IV-Haushalten leben, bis Dezember 2016 auf 1,6 Millionen gestiegen. Im Jahr davor waren es 1,54 Millionen Kinder. 2013 lag die Zahl mit 1,47 Millionen noch niedriger.

Linksfraktionschef Dietmar Bartsch machte die Bundesregierung für die Entwicklung verantwortlich. "Wer das Thema Kinderarmut bereits in seinem Koalitionsvertrag so stiefmütterlich behandelt, sollte jetzt keine Krokodilstränen weinen", sagte er der Süddeutschen Zeitung. Es sei wenig glaubwürdig, wenn andere Parteien jetzt so täten, als sei die Bekämpfung der Kinderarmut ihr Herzensanliegen. Vielmehr sei es "ein Erfolg der Linken", dass das Thema jetzt Aufmerksamkeit erfahre. In der nächsten Legislatur müsse "entschlossen gehandelt" werden.

Aus dem SPD-geführten Bundessozialministerium kamen am Montag eher zurückhaltende Töne. Hier will man sich nicht nachsagen lassen, das Thema Kinderarmut vernachlässigt zu haben. Bundessozialministerin Andrea Nahles (SPD) habe "im März" dazu Stellung genommen, sagte ein Sprecher. Im Übrigen greife es zu kurz, Hartz-IV-Bezug als Maßstab für Kinderarmut zu nehmen. Die steigenden Zahlen von Kindern in Hartz IV gingen zum einen darauf zurück, dass zwischen 2015 und 2016 ein "Aufwuchs" um 140 000 Flüchtlingskinder zu verzeichnen sei. Zum anderen sei Kinderarmut immer Familienarmut. So betrage das Armutsrisiko von Kindern knapp 65 Prozent, wenn beide Eltern arbeitslos seien. Arbeite ein Elternteil in Vollzeit, sinke es auf 16 Prozent, bei zwei arbeitenden Eltern auf fünf Prozent.

Wer Kinderarmut bekämpfen will, muss Eltern, besonders Mütter, in Arbeit bringen, lautet die Botschaft der SPD. Sie will sich beim Thema Gerechtigkeit nicht von der Linken überholen lassen. Die Grünen wiederum plädieren für einen grundsätzlichen Systemwechsel. "Die Bundesregierung verschließt seit Jahren ihre Augen vor der steigenden Zahl armer Kinder", erklärte die Vize-Fraktionsvorsitzende Katja Dörner. "Dieses Wegducken muss ein Ende haben." Die Grünen wollen alle bisherigen Familienleistungen abschaffen und durch eine nach Einkommen gestaffelte Kindergrundsicherung ersetzen.

Vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW) kam Kritik an den neuen Zahlen zur Kinderarmut. "Es gibt nicht ,immer mehr' Kinder in Hartz IV", twitterte IW-Ökonom Holger Schäfer. Als Beleg führte er eine Langzeitstatistik der Bundesagentur für Arbeit an, wonach die Zahl der Unter-15-Jährigen in Hartz-IV-Haushalten zwar im Vergleich zu 2012 gestiegen ist. Die Zahlen liegen aber immer noch unter dem Niveau von 2008. Auch zeigt die Kurve keine heftigen Ausschläge. Seit 2012 stieg sie langsam, aber kontinuierlich an.

© SZ vom 23.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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