Filmfestspiele:In Cannes ist die Zeit stehen geblieben

The Square

Eine Gorilla-Performance beim Sponsorendinner, die völlig aus dem Ruder läuft - solche Ideen brachten dem Schweden Ruben Östlund die Goldene Palme.

(Foto: Festival Cannes)

Die prämierten Werke lassen nicht auf eine Fortentwicklung des Films schließen. Stattdessen beschwören sie den düsteren Zustand der Welt - eine vertane Chance.

Von Tobias Kniebe

Auf die Kinos der Filmkunst kommt in diesem Jahr wenig Hoffnung zu - das ist die Botschaft des 70. Festivals von Cannes. Wem der Zustand der Welt tiefe Sorgenfalten in die Stirn gräbt, der darf sich nach diesem Festival sehr bestätigt fühlen - vielen Filmemacherinnen und Filmemachern geht es genauso. Ihre Analysen der Gegenwart, von Russland über Ungarn über die USA bis zu Deutschland, sind düster, oft hoffnungslos. Und ganz allgemein herrscht Ratlosigkeit, was genau dagegen zu tun wäre. Aber wo herrschte die nicht?

Wer etwa schon länger der Meinung ist, dass Materialismus und Egoismus der Fluch unserer Zeit sind, durfte sich bei dem Russen Andrej Swjaginzew und seinem Film "Nelyubov / Loveless" besonders zu Hause fühlen. Ein Paar in einem grauen postsowjetischen Wohnturm trennt sich, zwischen ihnen ist nur noch Hass - und ihre Diskussion eines Abends, bei wem ihr zwölfjähriger Sohn dann bleiben soll, ist von solcher Herzenskälte, dass das heimlich lauschende Kind sich gewissermaßen in Tränen auflöst. Am nächsten Tag ist es spurlos verschwunden.

Warum aber zum Beispiel die Frau in dieser Konstellation ein solches Monster geworden ist, versteht man wiederum bei der Konfrontation mit ihrer eigenen Mutter sofort. Damit wurde Swjaginzew diesmal zu einem frühen Favoriten vieler Kritiker, und auch die Jury um Pedro Almodóvar würdigte ihn mit dem "Prix de Jury".

Aber ob ein besseres Leben überhaupt irgendwo möglich ist, zum Beispiel in den USA, dem "Land of the Free"? Da sollte man besser nicht drauf wetten, wenn eine Filmemacherin wie die Schottin Lynne Ramsay ans Werk geht. Ihr Wettbewerbsbeitrag "You Were Never Really Here" war eigentlich ein Genrefilm vom Typ "Einsam-verstörter Kriegsveteran wird unheimlich effektiver Auftragskiller" - aber Joaquin Phoenix, als innerlich wie äußerlich schwer vernarbter Ex-Marine, ringt selbst so einer Rolle unberechenbare Dimensionen ab. Dafür wurde er prompt als bester Darsteller gewürdigt, Ramsay erhielt den Drehbuchpreis.

Was die Story betrifft, ist die Prämisse tatsächlich sehr interessant: Dass US-Senatoren hier nicht nur Sex mit Kindern haben, sondern gleich selbst ein entsprechendes Bordell betreiben, hätte man bis vor Kurzem noch als ziemlich aberwitzige Idee betrachtet, selbst für einen Genrethriller - etwa im Jahr 2013, als die zugrunde liegende Short-Story von Jonathan Ames erschien. Inzwischen nimmt man dieses Element einfach hin, schulterzuckend. "Suspension of disbelief", die alte Forderung des Kinos, alle Zweifel mal ruhen zu lassen - was die Schweinereien betrifft, die man den Mächtigen in der Fiktion inzwischen zutraut, haben Trump & Co wirklich ganze Arbeit geleistet.

Ähnlich sieht es mit der Frage aus, welche Grausamkeit man in manchen Ländern in Flüchtlingsfragen inzwischen voraussetzen darf. In dieser Hinsicht war der ungarische Beitrag "Jupiter's Moon" von Kornél Mundruczó recht aufschlussreich. Er beginnt mit Schlauchbooten voller Muslime, die versuchen, einen Grenzfluss Richtung Ungarn zu überqueren. Wie nicht anders zu erwarten, flammen Scheinwerfer auf, bellen Hunde, brüllen Megafone. Dass aber dann scharf geschossen wird, dass Menschen sterben wie im Kriegsfilm - sollte man den Ungarn so viel Hass und Gewalt wirklich zutrauen? Na ja, weiteres Schulterzucken, warum nicht - wenn schon die heimischen Filmemacher es tun? Diese Art der Indifferenz, die politisches Kino einfach als Genrekino wahrnimmt, das hemmungslos fantasieren und übertreiben darf, und Genrekino als Form, um Aussagen über die politische Gegenwart zu machen - man sollte zumindest erwähnen, dass darin eine Gefahr liegt.

Der Film mit der Goldenen Palme hatte die lautesten Lacher im Wettbewerb

Exakt dasselbe Spannungsfeld umgibt "Aus dem Nichts", den deutschen Beitrag von Fatih Akin, der das Versagen der Strafverfolgungsbehörden in Sachen NSU-Morde zum Ausgangspunkt nimmt. Auch dieser Film möchte eigentlich ein Genrefilm sein - Typus "Verzweifelte Mutter rächt ermordeten Mann und Sohn" -, wogegen man höchstens einwenden könnte, dass solche Rachefilme halt immer simpel und etwas platt wirken. Dafür spielt Diane Krüger, erstmals in ihrer Muttersprache, diese Verzweiflung schon wirklich sehr gut. Sie gewann den Preis als beste Darstellerin und dankte ihrem "Bruder" Fatih Akin, "der Stärken in mir entdeckt hat, von denen ich gar nicht wusste, dass ich sie habe."

Mann und Sohn im Film aber sterben durch eine von Neonazis gelegte Bombe, und deshalb ist es mit Genrekino und Verzweiflung hier nicht getan. Der längste Teil des Films handelt von einem Prozess, der vorgibt, einen genauen Blick auf das deutsche Rechtssystem zu werfen. Wollte Akin das tatsächlich tun, müsste er alle Genre-Ambitionen aufgeben, denn so funktioniert die Wirklichkeit eben nicht. Das will er aber nicht, also muss er wichtige Realitäten unterschlagen.

Vielleicht hat die Jury deshalb auch Filme herausgehoben, die der grassierenden Düsternis etwas entgegensetzen, so fragil es auch sein mag. Robin Campillos "120 Battements Par Minute" (Grand Prix) handelt zwar ebenfalls von einem harten Thema - Aids-Aktivisten im Frankreich der frühen Neunzigerjahre, viele sind selbst infiziert, einige sterben - aber die gelebte Energie und Solidarität dieses Kampfes, an dem der Regisseur damals selbst teilnahm, wirken als positiver Impuls doch sehr stark. Und Ruben Östlund mit "The Square", der Gewinner der Goldenen Palme, war der Film mit den lautesten Lachern im Wettbewerb. Zwar liegt auch hier einiges im Argen, es geht um Zweifel und Sinnlosigkeit im absoluten Herzen der Wohlstandsgesellschaft, sogar im Zentrum der Political Correctness. Schauplatz ist ein schwedisches Kunstmuseum und seine superreichen Gönner - über die kann man sich aber auch wunderbar lustig machen, und darin ist Östlund wirklich sehr kreativ.

Insgesamt jedoch vermittelte weder die Liste der Preise (Sofia Coppola gewann noch für die Beste Regie, nicht zu Unrecht, Nicole Kidman bekam eine Art Jubiläumspreis für starke Präsenz in zwei Wettbewerbsfilmen) noch die Auswahl des Wettbewerbs den Eindruck einer Richtung, einer Fortentwicklung des Films. Und vielleicht liegt das am Zustand der Welt. Das Kino liebt bleierne Zeiten und Verhältnisse, scheinbar in Stein gemeißelt, an denen es rütteln kann - in dem es sichtbar macht, zuspitzt, emotionalisiert, übertreibt. Wenn aber die Verhältnisse radikal im Fluss sind, wenn Zuspitzer, Emotionalisierer, Übertreiber überall an die Macht kommen, was dann?

Dann könnte es sein, dass die Aufgabe plötzlich Differenzierung ist - im Leben wie in der Kunst. Also die mühsame Arbeit, gerade den besten Geschichten nicht zu glauben, den stärksten Emotionen zu misstrauen und die eindeutigsten Schlussfolgerungen in Zweifel zu ziehen. Niemand soll sagen, dass das Kino dazu nicht in der Lage sei - als seismisches Instrument ist es so präzise, dass es all das in einem einzigen Gesicht in Großaufnahme registrieren kann. Filmemacher aber, die diese Chance begriffen haben - die waren zumindest auf diesem Festival noch nicht zu sehen.

Bester Film: "The Square" von Ruben Östlund (Schweden)

Großer Preis der Jury: "120 Beats per Minute" von Robin Campillo

Preis der Jury: "Nelyubov (Loveless)" von Andrej Swjaginzew

Beste Schauspielerin: Diane Kruger für "Aus dem Nichts"

Bester Schauspieler: Joaquin Phoenix für "You Were Never Really Here"

Beste Regie: Sofia Coppola für "The Beguiled"

Bestes Drehbuch: Lynne Ramsay für "You Were Never Really Here" und Giorgos Lanthimos für "The Killing of a Sacred Deer"

Bester Kurzfilm: "Katto" von Teppo Airaksinen und "A Gentle Night" von Qiu Yang

Sonderpreis zum 70. Jubiläum der Festspiele: Nicole Kidman

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