Klassik in München:Aus spöttischer Distanz

Pianist Igor Levit und Dirigent Kirill Petrenko bieten beim Bayerischen Staatsorchester Sergei Rachmaninows Paganini-Variationen mit Ironie und Witz.

Von Rita Argauer

In der Popmusik wird gerne viel gestritten. Zum Beispiel gerade über das Urheberrecht in Bezug auf Samples. Damit sind jene Klangfetzen aus einem Song gemeint, die in einem anderen Song verwendet werden, so dass nicht mehr klar ist, wer eigentlich komponiert hat und wer daher welche Tantiemen dafür bekommt. Doch neu ist das Prinzip der Fremdverwertung von musikalischem Material in einem anderen Werk gar nicht. Die sogenannte klassische Musik kennt das in Form von Variationsfolgen nur zu gut: Ein Komponist benutzt das Thema eines anderen, spinnt es weiter und sucht in Stil und Ausdruck nach einem neuen Blick darauf.

Der Blick allerdings, den Igor Levit und Kirill Petrenko beim 6. Akademiekonzert am Dienstag im Münchner Nationaltheater mit dem Bayerischen Staatsorchester auf Sergei Rachmaninows "Rhapsodie über ein Thema von Paganini" werfen, ist außergewöhnlich. In dieser herausragenden Interpretation der 24 Variationen über Niccolò Paganinis bekanntes Thema aus seiner 24. Caprice für Solovioline geschieht nicht nur überraschende Virtuosität in der Schichtung und Spannung der verschiedenen Klangfarben von Orchester und Klavier, sondern auch ein Kommentar über das Variationsprinzip. Nach fulminantem Anfang setzt Levit die ersten Klaviersprengsel passgenau ins leicht spöttische Orchester. Dann beginnt die Musik zu rasen, doch niemand rast hier mit furienhaftem Pathos, sondern immer mit einer leichten Distanz zum Sujet.

Levit und Petrenko zeigen Rachmaninows Blick auf eine fernere Vergangenheit

Die Distanz und dieser leicht spöttische, aber nie abwertende Blick, vor allem aber eine große Neukontextualisierung des variierten Themas macht in der Popmusik den Unterschied zwischen einem billigen Abklatsch und einem gut gesetzten Sample aus. Nichts anderes passiert bei Petrenko und Levit: Sie kosten das Mitreißende von Paganinis Thema aus, ohne je sentimental darin zu baden oder die Musik protzig oder zu mächtig werden zu lassen. Die Zugänglichkeit geschieht hier gewissermaßen als Emotionsvermittlung auf zweiter Stufe. Igor Levit agiert variationssicher in Stil und Ausdruck. Manchmal assoziiert er zum Beispiel kurz biedermeierliche Romantik im Duktus eines Brahms-Walzers. Das wirkt dann wie ein schön gerahmtes Bild aus vergangener Zeit. Man hört dieser Aufführung an, dass Rachmaninow auf ein Thema schaut, das einer anderen Epoche als er selbst entstammt. Dieser Blick in eine fernere Vergangenheit wird bei Petrenko und Levit erfahrbar.

Auch Gustav Mahler ist ein Freund von musikalischen Zitaten. Doch Mahler benutzt sie aus anderen Gründen, wenn er in seiner 5. Symphonie etwa jüdische und alpenländische Volksmusik eklektisch aufeinanderstoßen lässt. Schon im ersten brüllenden, erschreckenden und tief klagenden Orchestereinstieg im Trauermarsch, der dem Kopfsatz vorangestellt ist, zeigt Petrenko, dass Mahlers Zitate anders klingen als die bei Rachmaninow. Die fein spöttelnde Distanzierung ist verschwunden. Petrenko gibt den volksmusikalischen Motiven Mahlers das Pathos, die Energie, die Würde und die Ernsthaftigkeit, die eine respektable Blaskapelle, vor allem wenn sie zum Beispiel zu Beerdigungen aufspielt, haben muss.

Petrenko nimmt konsequent jede Stimmung in diesem Stück ernst. So stellt er das Zwiegespaltene der sich überlagernden Themen gnadenlos aus und setzt auf scharfe Kanten, wenn die Harmonien und Motive aufeinanderknallen. Das ist fordernd, bisweilen auch überfordernd. Doch nur so gelingt diese besondere Form einer brüchigen Apotheose, auf die diese Symphonie im Idealfall zielt: Etwa, wenn das Adagietto nach dem beißenden Scherzo voller Gutmütigkeit erstrahlt, obwohl es, wenn aus dem Kontext gerissen, doch auch etwas Kühl-Bedrohliches haben kann. Oder das hier langsam aufgebaute und nicht aufgebauschte Finale, das Petrenko mit einem krachenden Akkord enden lässt, ohne dabei zu kraftmeierisch zu wirken.

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