Arabischer Frühling:Hoffen auf die echte Revolution

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Cihan Tuğal beschreibt, warum das "türkische Modell" über viele Jahre für den Westen so attraktiv war. Die Analyse des Scheiterns dieses Modells allerdings gerät dem Autor dann doch recht eigenwillig.

Von Moritz Behrendt

Es ist nicht nur Erdoğan. Es sind tiefer gehende Strukturen, die für die aktuellen Probleme der Türkei verantwortlich sind. Der in Berkeley lehrende Soziologe Cihan Tuğal schreibt mit Wucht gegen die herkömmlichen Lesarten der Entwicklungen in der Türkei und der arabischen Welt an. Anstatt sich kultureller Stereotype wie der "orientalischen Despotie" oder der Überbetonung der Religion zu bedienen, sollte man sich, so Tuğal, auf eine gründliche Analyse der Wirtschaftspolitik und der politischen Strukturen konzentrieren.

So beschreibt er präzise, warum das "türkische Modell" lange Zeit für den Westen so attraktiv war: Eine neoliberale Wirtschaftsordnung, gepaart mit einem sanften Islamismus, nährte die Hoffnung auf zunehmende Demokratisierung und wurde als Gegenmodell zum antiwestlichen Kurs Irans wahrgenommen. Auch in Ägypten und Tunesien sahen viele Islamisten im Arabischen Frühling die Türkei als Vorbild. Anders als am Bosporus fehlten der Muslimbruderschaft in Ägypten und in etwas geringerem Maße auch der tunesischen Ennahda aber durchdachte wirtschaftspolitische Konzepte und eine straff organisierte Kaderpartei, meint Tuğal.

Trotz einiger interessanter Einsichten ist "Das Scheitern des türkischen Modells" letztlich keine überzeugende Analyse. Zum einen ersetzt der Autor handelnde Personen durch abstrakte Strukturen, als Lieblingsfeind hat er den Neoliberalismus ausgemacht. Da bleibt vieles im Dunklen, auch wegen der überbordenden soziologischen Terminologie. Zum zweiten verlässt er gerade beim zentralen Punkt seinen Analyserahmen: Warum ist die Türkei von ihrem Kurs abgewichen und hat einen zunehmend autoritären und nationalistischen Weg eingeschlagen? Tuğal sieht im Arabischen Frühling den Wendepunkt. Erdoğan habe versucht, sich als Champion der Sunniten aufzuspielen, dies sei ihm aber wegen der geopolitischen Konstellation nicht dauerhaft gelungen. Die Gezi-Proteste von 2013 hätten ihn dann verleitet, seine Macht zunehmend mit Gewalt durchzusetzen, gerade gegen die Kurden. Damit liegt der Autor sicherlich nicht ganz falsch, aber auch nicht weit weg von herkömmlichen Darstellungen, die er so vehement ablehnt.

Tuğals Buch ist durchdrungen von der tiefen Enttäuschung darüber, dass linke Parteien keinen wesentlichen Anteil an den Volkserhebungen hatten. In seinem Fazit träumt er dann davon, dass diese Proteste ähnlich wie die Februarrevolution in Russland Vorboten einer größeren, diesmal bitte von sozialistischen Parteien getragenen Revolution sein könnten. Zu Tuğals Verteidigung kann man einwenden, dass er das Manuskript für die englische Originalausgabe bereits 2014 fertiggestellt hat. Im Vorwort für die deutsche Ausgabe warnt er nun seine Gesinnungsgenossen vor einer "langen Nacht des rechten Autoritarismus".

Cihan Tuğal : Das Scheitern des türkischen Modells. Wie der arabische Frühling den islamischen Liberalismus zu Fall brachte. Aus dem Englischen von Hans Freundl und Karsten Petersen. Verlag Antje Kunstmann, München 2017, 400 Seiten. 24 Euro.

© SZ vom 19.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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