Brexit:Wenn die Erben zanken

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Nach dem Ausscheiden Großbritanniens aus der EU müssen auch Europäische Agenturen London verlassen - viele Staaten werben um sie und schlagen neue Standorte vor.

Von Daniel Brössler, Luxemburg

Der Wettbewerb hat eigentlich noch nicht richtig begonnen, aber gekämpft wird schon mit allen Mitteln. "Wir haben Erfahrung, Wissen, die Ausstattung, wunderbares Wetter und ein Kultgebäude", schmeichelt Barcelona per Twitter. "Hier ist es einfach, gesund zu bleiben", hält Wien dagegen. Die Umworbenen sind die 890 Mitarbeiter der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA), sie sind zuständig für die Zulassung von Medikamenten in der EU und suchen eine neue Bleibe. Besser gesagt: Die EU sucht für sie. Bisher ist die EMA wie die Europäische Bankenaufsicht (EBA) mit ihren 189 Mitarbeitern in Canary Wharf im Londoner Bezirk Tower Hamlets untergebracht. Das geht natürlich nicht mehr, jedenfalls nicht mehr nach dem 29. März 2019, dem Austrittstermin Großbritanniens aus der EU.

Mit dem Umzug der beiden Agenturen ist es wie nach einem Todesfall. Der mag betrauert werden, das Erbe wird dennoch gern genommen. Praktisch alle EU-Staaten haben Interesse angemeldet, eine der beiden oder gleich beide Behörden samt dem gut bezahlten Personal zu beherbergen. Deutschland zum Beispiel würde gerne die Pharmaagentur nach Bonn und die Bankenaufsicht nach Frankfurt holen. Der Länge der Bewerberliste steht die Kürze der Zeit entgegen. Die EU will schon im Oktober entscheiden, damit der Umzug überhaupt noch rechtzeitig zu bewältigen ist. Und so einträchtig die 27er-EU in den Brexit-Verhandlungen aufzutreten gedenkt, so unausweichlich ist der Streit über die richtige Ortswahl. Die EU-Agenturen versprechen nicht nur Prestige, sondern auch Einnahmen - etwa durch Konferenzen. Beide Agenturen haben London etwa 39 000 zusätzliche Hotelübernachtungen jährlich beschert.

Für das Verfahren haben sich EU-Ratspräsident Donald Tusk und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker einen Wettbewerb ausgedacht, der ein wenig an den Eurovision Song Contest erinnert. In einer ersten Runde sollen - getrennt für beide Agenturen - die 27 EU-Staaten sechs Stimmen auf drei Standorte verteilen können. Die drei Sieger kommen eine Runde weiter: Wer jetzt eine absolute Mehrheit auf sich vereint, hat gewonnen. Ansonsten genügt in der dritten Runde die einfache Mehrheit. Bei Stimmengleichheit wird notfalls am Ende eine Münze geworfen. Das klingt ein wenig nach Glücksspiel, unumstritten ist der Vorschlag auch nicht. Am Dienstag beugten sich in Luxemburg die Europaminister über den Plan. Beim EU-Gipfel Ende der Woche haben die Staats- und Regierungschefs das letzte Wort.

"Solche Status- und Standortfragen sind nie einfach, aber wir fühlen uns da auch dem gesamteuropäischen Interesse verpflichtet", tastete sich Europa-Staatsminister Michael Roth in Luxemburg an das heikle Thema heran. Deutschland habe "gute Bewerbungen abgegeben mit Städten, die exzellente Voraussetzun- gen mitbringen". Auch andere Staaten dürften - ganz im gesamteuropäischen Interesse - die eigenen Bewerbungen favorisieren.

Die neue Heimat soll "adäquate mehrsprachige" Schulen für die Kinder der Mitarbeiter haben

Das Problem war Tusk und Juncker bewusst, weshalb ihr Vorschlag einen Katalog von sechs Kriterien für die Standortwahl leiten soll. So muss gewährleistet werden, dass die Behörden ohne Unterbrechung weiterarbeiten. Die neue Heimat der Agenturen soll außerdem gut erreichbar sein, über "adäquate mehrsprachige" Schulen für die Kinder der Mitarbeiter verfügen, den Angehörigen guten Zugang zum Arbeitsmarkt gewährleisten und durch das Umfeld "Kontinuität" gewährleisten. Soll heißen: Eine Bankenaufsicht soll dahin, wo viele Banken sind. Also nach Frankfurt, würden die Deutschen sagen. Ein letztes Kriterium aber verlangt geografische Ausgewogenheit. Das soll jenen helfen, die noch keine EU-Behörde beherbergen - also vor allem den Osteuropäern.

Die Frage ist allerdings, was die Kriterien überhaupt wert sind. Nicht unberechtigt ist die Vermutung, dass die EU-Staaten bei diesem European Agency Contest in einer geheimen Abstimmung nach taktischen Erwägungen und geografischen Vorlieben entscheiden. Einige EU-Staaten plädieren dafür, dass nach Prüfung der bis zum 31. Juli einzureichenden Bewerbungen wenigstens so etwas wie eine Shortlist - womöglich von der EU-Kommission - angefertigt werden müsste. Andere, vor allem die Osteuropäer, wollen genau das nicht.

Der Vizepräsident der EU-Kommission, Frans Timmermans, appellierte an die Europaminister, das Verfahren nun nicht zu verschleppen. Die Europäer seien darauf angewiesen, dass die Agenturen ohne Unterbrechung weiterarbeiten. Die Zulassung von Medikamenten müsse schließlich weitergehen. Eine Einigung gab es dennoch nicht. Ob die Staaten das von Tusk und Juncker vorgeschlagene Verfahren akzeptieren, verändern oder ganz umwerfen, blieb offen und wird sich erst beim EU-Gipfel entscheiden.

"Wir können bei dieser Entscheidung nichts auf die lange Bank schieben", warnte auch Roth. Dies sei aber "dezidiert und definitiv nicht die schwierigste Entscheidung, die wir im Rahmen des Brexit zu treffen haben".

© SZ vom 21.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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