Videoüberwachung:Wer sich überwachen lässt, bekommt Amazon-Gutscheine

Lesezeit: 2 min

Eine Überwachungskamera filmt Passanten in einem S- und U-Bahnhof in Berlin. (Foto: dpa)

Sein Gesicht sechs Monate lang in Überwachungskameras an einem Berliner Bahnhof halten? Die Bundespolizei lockt Freiwillige - besonders eifrigen Testern winkt sogar ein Hauptgewinn.

Von Caspar von Au und Simon Hurtz

Auf Gutefrage.net bittet "zonguldak97" im Internet die Leser um eine Antwort: "Hallo wie bekomme ich (...) 25 euro zusammen ohne es von den eltern zu nehmen danke im voraus:" Sofern "zonguldak97" in Berlin wohnt und noch bis August warten kann, bietet sich ihm jetzt eine besondere Möglichkeit des Geldverdienstes.

Für 25 Euro muss man in der Hauptstadt lediglich 25 Mal durch den Bahnhof Berlin-Südkreuz schlendern. Und wer besonders fleißig flaniert, kann sogar eine Apple Watch gewinnen. Gesponsert von einer Institution, die bei vielen Deutschen höchstes Vertrauen genießt: der Bundespolizei.

Wäre da nicht ein Haken: Denn die Teilnehmer verdienen das Geld mit ihren persönlichen Daten. 275 Testpersonen sollen "regelmäßig, im besten Fall mehrmals täglich" den Bahnhof durchqueren. Dort hat die Polizei bestimmte Bereiche markiert, die von Überwachungskameras erfasst werden. Die Freiwilligen trainieren damit eine Software zur Gesichtserkennung. Die "intelligente Videotechnik" soll Straftaten verhindern und "Gefährder" erkennen.

Ein "tiefgehender Eingriff in die Persönlichkeitsrechte"

Am Montag hat die Bundespolizei damit begonnen, Freiwillige zu suchen, die sich zur Verfügung stellen. Ab sechs Uhr standen die Beamten in der Westhalle des Bahnhofs Südkreuz. Geld gegen Gesicht. Schon nach wenigen Stunden hatten sich 40 Interessierte gemeldet, berichten Berliner Medien.

Bewerber müssen sich fotografieren lassen, die Aufnahmen landen in einer Datenbank. Das System gleicht die Aufzeichnungen der Kameras mit den hinterlegten Bildern ab und soll die Person erkennen, sobald diese den Testbereich betritt. Dazu müssen die Probanden sechs Monate lang einen Transponder bei sich tragen. Dieser Funkchip registriert, wenn Teilnehmer den Bahnhof betreten. Das Projekt solle "das Sicherheitsempfinden der Bürger steigern", begründet Innenminister Thomas de Maizière die Initiative.

Überwachung im Supermarkt
:Abgescannt im Supermarkt

Bei der Kette Real wird mit Gesichtserkennung getestet, wie Kunden auf Werbung reagieren. Das zeigt: Mittlerweile versuchen Händler nicht nur im Internet, alles über ihre Kunden herauszufinden.

Von Michael Kläsgen und Helmut Martin-Jung

Allgemeine Überwachung mit Gesichtserkennung sei ein "sehr tiefgehender Eingriff in die Persönlichkeitsrechte", warnt hingegen die frühere Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP). Der Linken-Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko nennt die Kameras mit biometrischer Datenanalyse "Bevölkerungsscanner", sie beeinflussten Verhalten der Menschen im öffentlichen Raum, warnt er. Das Pilotprojekt bezeichnet Hunko als "Tombola". Leutheusser-Schnarrenberger sagt, der Anreiz, den die Bundespolizei offenbar mit den Preisen schaffen will, habe sie entsetzt.

Datenschützer kritisieren die automatische Gesichtserkennung scharf

Was man wohl sagen muss: Die Videoüberwachung am Berliner Südkreuz mag umstritten sein, verstößt jedoch nicht gegen geltendes Recht: Das Pilotprojekt sei "für sich genommen noch nicht als schwerwiegender Eingriff zu sehen", sagt die Bundesbeauftragte für den Datenschutz, Andrea Voßhoff. Die Testpersonen hätten sich freiwillig gemeldet und seien ausreichend informiert worden. Passanten, die sich nicht überwachen lassen wollen, könnten die markierten Bereiche leicht umgehen.

Das gelte aber nur für den lokal und zeitlich begrenzten Testbetrieb. Die Bundesdatenschützerin hat nach wie vor "grundsätzliche Bedenken gegen automatisierte Gesichtserkennung", die einen erheblichen Grundrechtseingriff darstelle. Auch Maja Smoltczyk, Berliner Beauftragte für Datenschutz, sagt: "Der Einsatz von Videokameras mit Gesichtserkennung kann die Freiheit, sich in der Öffentlichkeit anonym zu bewegen, gänzlich zerstören."

Ab Mai 2018 greift europaweit die neue Datenschutzgrundverordnung. Diese setzt enge Grenzen für die Erhebung biometrischer Daten. Wenn die Bundespolizei das "Projekt Sicherheitsbahnhof" über den Testbetrieb hinaus ausweiten will, wären dafür neue Gesetze notwendig.

In Berlin haben sich schon mehr als 100 Freiwillige beworben

Längst setzen auch Unternehmen entsprechende Technologien ein. So haben Datenschützer des Vereins Digitalcourage Strafanzeige gegen die Supermarktkette Real und die Deutsche Post erstattet. Beide filmen und identifizieren die Gesichter von Kunden in jeweils 40 Filialen, erfassen das vermutete Geschlecht und Alter und analysieren das Verhalten. Real will die Informationen für personalisierte Werbung nutzen. Während beide Unternehmen die erhobenen Daten nach eigenen Angaben nicht speichert, werden sie beim Projekt Sicherheitsbahnhof in der Testphase erst nach einem Jahr gelöscht.

All das hält einige Berliner aber nicht davon ab, sich freiwillig überwachen zu lassen. Bereits nach einem Tag habe sich "eine dreistellige Zahl von Testpersonen" beworben, meldet die Bundespolizei. Für 25 Euro und vielleicht eine Apple Watch.

© SZ vom 21.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ-Recherche
:Wie das Netz der Dinge uns ausspioniert

Die Industrie feiert die totale Vernetzung von Milliarden Alltagsgeräten. SZ-Recherchen zeigen: Das Internet der Dinge birgt Risiken, die niemand ernsthaft kontrolliert — vom "Smart Home" bis zur Überwachungskamera im Wohnzimmer.

Von Jannis Brühl und Vanessa Wormer

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: