Theater:Das Erbe des Bösen

Kammerspiele "DAS ERBE"

Dunkle Andeutung: Jonas Grundner-Culemann mit Wiebke Puls, hinten im Bild Tina Keserovic.

(Foto: Armin Smailovic)

Der 30-jährige Ersan Mondtag inszeniert an den Kammerspielen München eine überbordende Assoziation zum NSU-Prozess.

Von Egbert Tholl

Großes wird sich ereignen, so viel scheint sicher. Vor der Spielhalle der Münchner Kammerspiele herrscht eine aufgekratzte Nervosität, die durch die technisch bedingte Verzögerung des Beginns nicht gemildert wird. Im Gegenteil. An einem der meistdiskutierten Theater Deutschlands inszeniert der knapp dreißigjährige Ersan Mondtag, der in den wenigen Jahren seines künstlerischen Schaffens bereits zwei Mal zum Theatertreffen eingeladen wurde, zum Nachwuchsregisseur des Jahres gewählt wurde und überhaupt als der heißeste und vielleicht auch eigenwilligste Regisseur seiner Generation gilt.

Es geht um den NSU. Doch "Das Erbe", wie der Abend heißt, ist keine Dokumentation, keine Aufarbeitung, keine Theatralisierung. Es ist eine "Assoziation", ersonnen von Mondtag und seinen symbiotischen Mitkünstlern Olga Bach und Florian Seufert. Sie kompilierte einen Text aus heterogenen Quellen wie Sophokles, Bildbeschreibungen zu Lukas Cranach, Gesetzestexten, Prozessakten, RAF, NSU, Stasi, Rudolf Heß, Gebrüder Grimm und etwa 40 weiteren. Er, Seufert, erschuf Videos, die zum einen die Erde aus dem All zeigen, ein suggestiver Raumflug, zum anderen, reichlich sensationell, in zwei Bilderrahmen Porträts der mitwirkenden Schauspieler präsentieren, wie von Rembrandt, aber belebt. Ein Gesicht verändert sich langsam ins nächste, man sieht einen permanenten Übergang oder auch lautlose Gefühlsexplosionen, stumme Kommentare aufs Bühnengeschehen.

Die Porträts befinden sich in einer Galerie der künstlerischen Menschheitsgeschichte, im geordneten Chaos einer Petersburger Hängung. Rainer Casper hat sie gezeichnet, in einem schwarzen Raum, in dem Neonlicht manche der Bilder hervorhebt, Tiere, Stillleben, Porträts. Oben eine Galerie mit einer Bibliothek gezeichneter Bücher, unten ein kleiner Vorhang, dahinter ein geheimnisvoll leerer Raum.

Ersan Mondtag schafft Bühnenkunstwerke. Und er liebt die Überforderung. "Das Erbe" ist auch eine krasse Zumutung, weil die vielen Textbausteine selten zu einem harten Argumentationsgefüge zusammengeschraubt werden. Alles fließt, mäandert, und doch geht alles in dieselbe Richtung. Sechs androgyn hergerichtete Darsteller mit blonden Perücken, schwarzen Kleidchen, roten Gesichtern und Spockohren erkunden irgendwo hoch über der Erde, die man im Video sieht, was sie von dieser mitgebracht haben. Sie singen und wispern, sprechen wie elektrifiziert im Chor oder ganz sanft alleine. Am Anfang, nach einer langen Liste von Zahlen und nackten Datumsangaben - Kriege, Attentate, Katastrophen - spricht der Chor "Ödipus", kündet davon, wie dieser beschloss, den Mörder seines Vaters zu finden. Aber der ist er selbst. Das führt in der Folge, wenn die Sechs sich in einem kafkaesken Rausch, aber auch mit konkreter Erkenntnis durch die NSU-Prozessprotokolle graben, zu folgender Assoziation: Die, die den NSU anklagen, untersuchen, vor Gericht stellen, sind hier selbst Täter. Was angesichts der Verworrenheit des Prozesses einer gewissen phantastischen Logik nicht entbehrt.

Im Grunde ist dieser Bühnenrausch reine Philosophie, spekulativ und sehr klug. Die Frage, wer das Böse gebiert, legt sich über historische Massenmörder, DDR, Diktatur, Nazizeit. Mondtag geht da auf in jener Haltung, die man seit geraumer Zeit Dystopie nennt, völlige Desillusion, trotz seines schrägen Humors. Man erfährt beispielsweise viel über die Herstellung von Döner-Spießen, ohne dass konkret die Morde an Dönerbudenbesitzern erwähnt werden, für die der NSU verantwortlich gemacht wird.

Bald entdecken die sechs entindividualisierten Zukunftswesen eine als schwanger ausstaffierte Beate Zschäpe im Hinterzimmer. Langsam erwacht Zschäpe (Tina Keserovic) zu einem kreatürlichen Dasein, greint und nervt, kann auch mal lieb einen Mitspieler bei der Hand nehmen. Sie wird in eineinhalb Stunden immer mehr Mensch, huscht zwischen den Chor-Choreographien der Sechs hindurch und gebiert schließlich: ein Hirn. Das Erbe, das Mondtag meint, das Erbe der Menschheit, betrachtet aus weitem Abstand zur Erde, ist immer nur eines des Bösen. Der Zschäpe-Homunkulus fungiert hierbei nur als Katalysator einer umfassenden Zivilisationskritik. Diese mündet vollkommen aberwitzig in einer Horrorversion der Mini-Playback-Show. Das kann man als Verharmlosung empfinden. Oder auch als Abgesang auf jede Kultur.

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