Großbritannien:Das Hochhaus-Drama entlarvt die gefährliche Sozialpolitik Londons

Jahrelang hat die Regierung bei den Sozialausgaben gespart, um den maroden Haushalt zu sanieren. Rentner und Industrie wurden geschont. Jetzt zeigt das Grenfell-Feuer, wie es um die Bedürftigen wirklich steht.

Kommentar von Björn Finke

Rußgeschwärzt steht der Turm wie ein Mahnmal im Londoner Westen. Ein Mahnmal dafür, dass auch in einem der reichsten Stadtbezirke einer der reichsten Metropolen der Welt Arme unter miserablen Bedingungen leben müssen. Und dass der Reichtum Kensingtons nicht verhindern konnte, dass 79 Menschen erbärmlich in den Flammen starben. Der Grenfell Tower beherbergte Sozialwohnungen. Wie es aussieht, hat die Eigentümerin, die Bezirksverwaltung, auf Kosten der Sicherheit gespart. Bei einer Renovierung im vergangenen Jahr wurde die Fassade mit Platten verkleidet, die billiger, aber weniger feuerfest waren als Alternativen.

Landesweite Untersuchungen nach der Katastrophe haben bisher ergeben, dass 60 weitere Hochhäuser Feuerfallen sind. Im Londoner Stadtteil Camden, fünf Kilometer vom Grenfell Tower entfernt, räumte die Bezirksverwaltung am Wochenende vier Hochhäuser mit Sozialwohnungen wegen Brandgefahr. Hunderte Familien müssen in Hostels oder Turnhallen übernachten - es herrschen Zustände wie nach einem Erdbeben. Großbritannien, eines der reichsten Länder der Erde, bringt Tausende seiner ärmeren Bürger seit Jahren in lebensgefährlichen Wohnungen unter. Das ist auch ein sozialpolitischer Skandal.

Die Zustände illustrieren empörend gut die Versäumnisse der Politik der vergangenen Jahre. Als die Konservativen 2010 an die Macht kamen, erbten sie von Labour marode Staatsfinanzen. Die Lasten der Finanzkrise hatten das Haushaltsdefizit auf elf Prozent der Wirtschaftsleistung hochgetrieben. An der Themse herrschten griechische Verhältnisse.

Der Haushalt ist in den Miesen und der Brexit wird die Konjunktur belasten

Premier David Cameron und sein Schatzkanzler George Osborne sparten darum eisern - und vor allem auf Kosten der Armen. Die Kriterien für den Bezug von Sozialleistungen wurden verschärft. Außerdem führte Osborne 2013 eine Höchstgrenze für Sozialtransfers ein, die ein Haushalt beziehen kann, unabhängig von der Miethöhe und der Zahl der Kinder. Besonders hart trifft das Arme mit vielen Kindern in teuren Städten wie London. Der Trussell Trust, größter Betreiber von Lebensmittel-Tafeln, verteilte im vergangenen Jahr 1,2 Millionen Essenspakete an Bedürftige, so viele wie nie zuvor. Vor sieben Jahren waren es nur 41 000 gewesen - ein beschämender Boom.

Die verschiedenen Töpfe der Sozialhilfe waren das bevorzugte Sparziel. Hingegen versprach die Regierung der treuen Wählergruppe der Ruheständler bereits 2010, dass ihre Renten Jahr für Jahr weiter steigen würden. Und die Steuern für Firmengewinne senkten die Tories drastisch, um das Land attraktiver für Investoren zu machen. Die Fernsehbilder vom Grenfell Tower und den evakuierten Familien zeigen den Briten nun eindrücklich, dass der Staat seiner Fürsorgepflicht gegenüber den Schwächsten der Gesellschaft nicht mehr nachkommt. Viele Beobachter - und die Tories selbst - führen das gute Abschneiden der Labour-Partei bei den Wahlen darauf zurück, dass die Bürger genug von den Sparpaketen haben.

Ob die Katastrophe den Anstoß liefert zur Wende im Umgang mit den Benachteiligten, ist aber fraglich. So kommt es sehr gut an, dass die Tories eine knapp bemessene Obergrenze für Sozialleistungen eingezogen haben. Die meisten Briten befürchten offenbar, dass üppigere Hilfen Anreize zerstören würden, sich aus der Abhängigkeit vom Staat zu befreien. Außerdem hat Premierministerin Theresa May kaum Spielräume, um sozial Schwache stärker zu unterstützen. Der Haushalt ist immer noch in den Miesen, und der Brexit wird die Konjunktur weiter belasten und Steuereinnahmen verringern. Das Feuer könnte zwar dazu führen, dass die Armen sicherere Wohnungen erhalten. Ansonsten wird sich ihr Los wohl nicht verbessern.

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