Gastbeitrag:Wirtschaft muss den Menschen dienen

Gustav Schmoller, 1901

Gustav Friedrich von Schmoller (1838-1917) - das Porträt malte Franz von Lenbach.

(Foto: Blanc Kunstverlag)

Die Ideen Gustav Schmollers, eines der einflussreichsten Ökonomen des Kaiserreichs, erleben eine Renaissance.

Von Nils Goldschmidt

Als Gustav von Schmoller am 27. Juni 1917 stirbt, endet zugleich eine der originellsten Epochen der deutschsprachigen Wirtschaftswissenschaft. Schmoller - den man wohl mit einigem Recht als den Hans-Werner Sinn des späten 19. Jahrhunderts bezeichnen könnte - und seine Historische Schule der Nationalökonomie prägten nicht nur fast 50 Jahre Lehre und Forschung, sondern auch die Wirtschafts- und Sozialpolitik im Deutschen Kaiserreich. Schmoller war einer der einflussreichsten Gelehrten seiner Zeit. Die Urteile seiner Nachfahren über ihn waren hingegen häufig wenig schmeichelhaft. Erwin von Beckerath, einer der Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft, sah in Schmoller einen "Verderber theoretischen Denkens, der die ökonomische Wissenschaft in Deutschland schwer geschädigt hat". Umso erstaunlicher ist es, dass man derzeit durchaus von einem Schmoller-Comeback sprechen kann

Er war davon überzeugt, dass Ökonomen politisch Position beziehen müssen

Geboren am 24. Juni 1838 in Heilbronn, war Schmoller ein Kind der Industrialisierung. Er erlebte wie der technische Fortschritt seine Umgebung rasant veränderte, aber zugleich Sorgen und Nöte mit sich brachte. Sein Leben verlief dagegen in ruhigen Bahnen: 1857 begann er an der Universität Tübingen das Studium der Kameralwissenschaften, also der Kunst, das Vermögen des Fürsten beziehungsweise des Landes zu verwalten - eine Tätigkeit, die auch schon sein Vater ausübte. Nach dem ersten Examen und einer preisgekrönten Dissertation absolvierte Schmoller seine Referendarzeit zunächst im väterlichen Kameralamt in Heilbronn, später dann bei seinem Schwager Gustav Rümelin im Württembergischen Statistischen Büro. Die Tätigkeit ließ in Schmoller die Einsicht wachsen, dass staatliches Verwaltungshandeln einer soliden empirischen Datenbasis bedarf.

Seine Karriere als Beamter war jedoch nur von kurzer Dauer. Mit einer anonymen Schrift (dessen Autorschaft jedoch bald offenbar werden sollte) mischte sich Schmoller in den Streit um einen geplanten preußisch-französischen Handelsvertrag ein. Süddeutschland war gegen den Vertrag, doch Schmoller unterstützte die preußische, handelsliberale Position. Dies eröffnete ihm neue Möglichkeiten. 1864 erhielt er einen Ruf an die Universität Halle, unterstützt durch den preußischen Handelsminister Rudolph Delbrück, der zu einem wichtigen Förderer wurde. 1882 wurde Schmoller an die Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin berufen.

Schmollers Denken lässt sich knapp zusammenfassen: Sein Ziel war es, ökonomische Prozesse so zu gestalten und zu begleiten, dass sie dem Einzelnen wie auch der Gesellschaft dienlich sind. Er war davon überzeugt, dass Ökonomen politisch und gesellschaftlich Position beziehen müssen. Das brachte ihm scharfen Gegenwind von Max Weber ein, der die Werturteilsfreiheit der Wissenschaft forderte. Auf der von Schmoller wesentlich mitinitiierten Gründungsversammlung des Vereins für Socialpolitik, der bis heute eine einflussreiche Stimme der deutschsprachigen Ökonomen ist, führte Schmoller im Jahr 1872 zu seinem Programm aus: Es gehe darum, "die untern Classen soweit zu heben, zu bilden, zu versöhnen, dass sie in Harmonie und Frieden sich in den Organismus der Gesellschaft und des Staates einfügen".

Sein Programm würde man heute wohl mit den Schlagworten "Befähigungsgerechtigkeit" und "soziale Inklusion" charakterisieren. Die Distanz zu marktliberalen Positionen und die Hinwendung zu sozialen Nöten brachten ihm und Gleichgesinnten die Bezeichnung "Kathedersozialisten" ein. Eine Bezeichnung, die Reichskanzler Otto von Bismarck später auf sich anwenden sollte - und die den Einfluss dieser Gruppe auf die gerade entstehende staatliche Sozialpolitik dokumentiert.

Eine Wirtschaftswissenschaft, die gesellschaftliche Relevanz entfalten will, kann sich im Schmollerschen Sinne nicht allein auf formale Modelle und abstrakte Deduktionen stützen, sondern sie muss die Wirtschaft in Kultur und Geschichte eingebettet verstehen und philosophische und psychologische Erkenntnisse einbeziehen. Hiermit stand Schmoller und seine Schule im Gegensatz zur angelsächsischen Tradition im Gefolge von Adam Smith, aber auch zu der sich damals formierenden Österreichischen Schule, die in Carl Menger ihren Protagonisten und in der subjektiven Wertlehre ihren Fokus gefunden hatte. Schmoller hingegen rief bei dieser jüngeren Ökonomengeneration, die später den wirtschaftswissenschaftlichen Mainstream prägen sollte, Kopfschütteln hervor. So schreibt Menger: "Mag der Methodiker Schmoller in Hinkunft noch so löwenhaft im Spreesande einherschreiten, die Mähne schütteln, die Pranke heben, erkenntnistheoretisch gähnen; nur Kinder und Thoren werden fürderhin seine methodologischen Gebärden noch ernst nehmen." Schmoller revanchierte sich, indem er einer Schrift Mengers "weltflüchtige stubengelehrte Naivität" attestierte.

Der Siegeszug der formalen und mathematisch geprägten Wirtschaftswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg ließ das Erbe Schmollers verblassen. Seine Methode galt als unwissenschaftlich, seine sozialpolitischen Botschaften bestenfalls als gut gemeint. Diese Einschätzung ist im Falle Deutschlands umso verwunderlicher, als auch die Soziale Marktwirtschaft ohne die Ideen der Historischen Schule nicht denkbar gewesen wäre. Beiden Richtungen ist die Überzeugung gemein, dass die Wirtschaft nicht dem Prinzip des "laissez faire" überlassen werden kann, sondern einer sozialen Rahmung bedarf.

Diese Zeit des Umbruchs fordert dazu auf, wieder mehr den Menschen in den Blick zu nehmen

Bis in die jüngste Zeit hinein ruft bei den meisten deutschen Ökonomen der Name Schmoller ein argwöhnisches Stirnrunzeln hervor, und es sind eher britische und amerikanische Forscher, die dem ganzheitlichen Denken Schmollers wieder ein Forum bieten. Der Grund für diese Renaissance ist klar: Die Umbrüche der letzten Jahrzehnte - ausgelöst durch den Zusammenbruch des Sozialismus und die forcierte Globalisierung - fordern auch Wirtschaftswissenschaftler wieder dazu auf, ökonomische Entwicklung und gesellschaftliche Wandlungsprozesse zusammenzudenken. Die bahnbrechenden Arbeiten des Wirtschaftsnobelpreisträgers Douglass C. North zur Rolle von Institutionen, aber auch Untersuchungen wie der Bestseller "Warum Nationen scheitern" von Daron Acemoğlu und James A. Robinson lesen sich wie Werke in der Tradition Schmollers. Vielleicht wäre die Zunft der Ökonomen gut beraten - gerade auch angesichts von Brexit, griechischer Dauerkrise und der erratischen Wirtschaftspolitik in den USA - wieder mehr den Menschen und nicht so sehr die formale Eleganz wirtschaftlicher Modelle in den Blick zu nehmen. Oder wie es Schmoller treffend kritisierte: "Nicht die Menschen, ihre Handlungen und Institutionen werden untersucht, sondern die 'Magie' des technisch-kapitalistischen Produktionsprozesses wird mit den Zauberkünsten der Dialektik und scheinbar unwiderleglichen mathematischen Formeln vorgeführt."

Nils Goldschmidt lehrt Wirtschaftswissenschaft an der Universität Siegen. Er ist Vorsitzender der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft und Mitherausgeber von Schmollers Jahrbuch - Journal of Contextual Economics.

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