Proteste:Marokko erlebt einen zweiten Arabischen Frühling

Proteste: In ganz Marokko haben sich Menschen mit der Protestbewegung solidarisiert.

In ganz Marokko haben sich Menschen mit der Protestbewegung solidarisiert.

(Foto: Fadel Senna/AFP)
  • ​Unter der Regierung von Mohammad VI. blieb es im Arabischen Frühling weitgehend ruhig - nun reißen seit Monaten die Massenproteste nicht ab.
  • Der König versucht mit symbolischen Anordnungen zu besänftigen.
  • Der Anführer der Protestbewegung steht seit Montag in Casablanca vor Gericht.

Von Moritz Baumstieger

Müde schaut der Mann in die Kamera und hebt seine Arme. Er streckt die Hände aus, als wolle sein Gegenüber kontrollieren, ob die Fingernägel sauber sind. Später hebt der Mann seinen violetten Kaftan, die Kamera filmt seinen Bauch, seinen Rücken - er muss sich beschauen lassen wie ein Stück Vieh vor der Auktion. Das Video, das derzeit in Marokko für Empörung sorgt, zeigt Nasser Zefzafi, Anführer von "al-Hirak al-Shaabi. "Die Volksbewegung" ist verantwortlich für immer größer werdende Massendemonstrationen, die seit acht Monaten das Königreich erschüttern, das bislang als Stabilitätsanker in einer Region im Umbruch galt.

Der 37-Jährige sitzt seit 26. Mai in Haft, am Montag hat in Casablanca ein Prozess wegen "separatistischer Umtriebe" gegen ihn begonnen. Mit dem Video, das einer Online-Plattform zugespielt wurde, will der Staat beweisen, dass Zefzafi nicht gefoltert wurde, wie seine Anwälte behaupten. Unterschwellig soll offenbar gezeigt werden, dass man den zuvor so stolzen Mann in der Hand hat - und er auf Befehl Arme und Beine hebt wie ein dressiertes Äffchen.

In den vergangenen Wochen waren es eher die Demonstranten gewesen, die Marokkos Polizei ein ums andere Mal der Lächerlichkeit preisgaben: Um Demonstrationen zu verhindern, riegelten die Sicherheitskräfte die Städte im Rif-Gebirge im Norden des Landes ab, wo die Protestbewegung ihre Wurzeln hat und besetzten die öffentlichen Plätze. Die Aktivisten verlegten ihren Protest daraufhin auf die Dächer der Häuser, auf Friedhöfe und an die Strände der Mittelmeerküste. Bilder von Polizisten, die in der Provinzhauptstadt al-Hoceima Häuserfassaden hochzuklettern versuchten, über Gräber sprangen oder zu Pferde Demonstranten in Badehose durchs flache Wasser jagten, wurden im Internet hämisch kommentiert.

Reine Spaßveranstaltungen sind die Proteste des "Hirak" jedoch nicht: Seit im Oktober 2016 ein Fischhändler in einem Müllauto zerquetscht wurde, in das die Polizei seine konfiszierte Ware geworfen hatte, erinnern sich die Menschen dort in der Berberregion ihrer langen Kultur des Widerstandes. Ihre Vorfahren erhoben sich gegen die spanischen Kolonialherren und später gegen die neuen Herren im Königspalast von Rabat. Die Hirak-Aktivisten von heute streben nach eigenen Angaben keine Unabhängigkeit an. Sie fordern, dass die Regierung endlich für bessere Lebensbedingungen sorgt, ein Mindestmaß an Infrastruktur bereitstellt und etwas unternimmt gegen die Korruption und die "Hogra" , die Willkür marokkanischer Beamter.

Ramadan endete mit Straßenschlachten

Der Staat reagierte zunächst mit Härte: Als die Polizei Ende Juni Demonstrationen auflösen wollte, endete der heilige Fastenmonat Ramadan mit Straßenschlachten. Neben Zefzafi wurden mehr als 100 Aktivisten verhaftet. Inzwischen sind zwar weniger Polizisten in Kampfmontur in den Straßen, dafür lungern Beamte in Zivil in den Stadtzentren herum.

Mittlerweile haben sich in ganz Marokko Menschen mit der Bewegung solidarisiert: In Städten wie Casablanca und Rabat gehen nun Tausende auf die Straße. Ihnen reichen die Reformen nicht, mit denen König Mohammad VI. im Zuge des Arabischen Frühlings aufkeimenden Forderungen nach mehr Demokratie begegnete. Und in anderen abgehängten ländlichen Regionen bemerkten die Menschen, dass sie ähnliche Probleme haben wie die Berber im Norden. Einige Demonstranten stellen mittlerweile die Systemfrage und zweifeln die Legitimität des Königs an.

Der versucht nun mit symbolischen Anordnungen zu besänftigen: Den Ministern strich er die Sommerferien. Statt sich zu erholen, sollen sie die Entwicklung der Rif-Region vorantreiben. Um den Tourismus zu fördern, bietet die Royal Air Maroc nun zwei zusätzliche Flüge in die Protesthochburg al-Hoceima an, bisher landeten hier nur vier Maschinen pro Woche. Dass aber der Mann aus dem Video, der Protestführer Zefzafi, bald mit einem der neuen Direktflüge in seine Heimat zurückkehrt, ist unwahrscheinlich: Ihm drohen bis zu 30 Jahre Haft.

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