Starnberg:Gegenaufklärung

Lesezeit: 2 min

Johano Strassers Anthologie "Das freie Wort" analysiert das Zeitgeschehen

Von Katja Sebald, Starnberg

(Foto: Franz Xaver Fuchs)

Um es vorweg zu nehmen: Es ist ein Buch, das jeder, wirklich jeder lesen sollte. "Das freie Wort. Vom öffentlichen Gebrauch der Vernunft im postfaktischen Zeitalter" heißt die Anthologie, die der Politologe und Publizist Johano Strasser soeben herausgegeben hat und für die ihm bekannte Intellektuelle Beiträge geliefert haben. Am Freitagabend stellte er das Buch zusammen mit den Schriftstellern Gert Heidenreich und Norbert Niemann, zwei von 13 Autoren, auf Einladung des Kulturforums der Sozialdemokratie in der Bücherjolle in Starnberg vor.

Die Texte in diesem Buch analysieren klug von verschiedenen Standpunkten aus die Phänomene unserer Gegenwart, in der die Briten ihr Schicksal "auf dem Niveau ihrer Boulevardzeitungen", so Heidenreich, entschieden haben und die Amerikaner einen Präsidenten gewählt haben, der ihnen dreiste Lügen als "alternative Fakten" präsentiert. Die Autoren des Buchs setzen dem aufgeregten Zeitgeist Argumente entgegen und erklären, wie es so weit kommen konnte, dass das Denken ins Hintertreffen geraten ist und der Affekt im Vordergrund steht.

Man kann nur zustimmen, wenn Strasser in seinem Beitrag eine fehlgeleitete Bildungspolitik beklagt und eine "Zurüstung junger Menschen fürs Geldverdienen" beschreibt, die mit Bildung verwechselt wird. Man kann nur zustimmen, wenn er sagt, dass "alle Regierungen der letzten Jahre dazu beigetragen haben oder es jedenfalls hingenommen haben, dass die Kluft zwischen Arm und Reich immer tiefer wurde", dass dadurch "viele Menschen in ihrer Würde verletzt und gedemütigt wurden" und dass sich nun ihre Wut "auf die da oben" entlädt: An die Stelle einer früher selbstverständlichen "Hegemonie der Wissenskultur" sei eine "Emanzipation des Banausentums" getreten.

Man kann auch Heidenreich nur zustimmen, wenn er "Literatur-Unterricht" in den Schulen fordert und die "emotional und rational erlebte Konfliktsimulation in literarischen Werken" als eine "durch nichts zu ersetzende Lebensschulung" schildert, wenn er von einer neuen "Gegenaufklärung" als Kennzeichen unserer Zeit spricht und wenn er feststellt, dass auch eine früher selbstverständliche "Bildung ohne Bildung", ein von Eltern an ihre Kinder weitergegebener Anstand im menschlichen Miteinander, verloren gegangen ist. Und man kann auch dem Schriftsteller Niemann nur zustimmen, der in seinem Textbeitrag "Rumor" die zunehmende Attraktivität von Populisten anhand des Erfolgs einer "amerikanischen Porno-Schmonzette" erklärt, die zum Bestseller gehypt wurde: "Auch die populistischen Akteure surfen auf Wellen der Zustimmung und der Empörung, die sich wechselseitig hochschaukeln." Von beiden Wellen aber würden sie gleichermaßen zur Macht getragen. Und natürlich muss man auch zustimmen, wenn er schreibt, dass die "anonymen Absender kollektiv getragener, digitaler Botschaften des Hasses, der Wut und der Verachtung für jede andere als ihre blindwütige ,Meinung' restlos unempfänglich sind".

Am Ende dieses Abends aber, an dem vor einer Handvoll silberhaariger Bildungsbürger sehr lange darüber diskutiert wird, dass in den Schulen keine Literatur mehr gelesen wird, an dem man auch zu dem Ergebnis kommt, dass für die meisten jungen Leute "Lesen nicht mehr cool ist", dass eigentlich überhaupt nicht mehr gelesen wird und es längst zum allgemeinen Konsens geworden ist, dass Lesen anstrengend ist, am Ende dieses Abends bleibt die Frage: Wie soll dieses wirklich gute Buch denn diejenigen erreichen, die es am dringendsten erreichen sollte? Die sich in ihrer Meinungsblase ihre Parolen zurufen, und alles andere für Machenschaften der "Lügenpresse" halten?

"Das freie Wort. Vom öffentlichen Gebrauch der Vernunft im postfaktischen Zeitalter", herausgegeben von Johano Strasser, ist soeben im Allitera Verlag erschienen und kostet 19.90 Euro. Jedes verkaufte Exemplar unterstützt die Arbeit von "Refugio München", einem Beratungs- und Behandlungszentrum für Flüchtlinge und Folteropfer.

© SZ vom 17.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: