Weihnachtsstress:"Wir erleiden Weihnachten"

Mehr Stress als Spaß - warum tun wir uns das jedes Weihnachten an? Ein Psychologe rät, wie man mit Streit und Trauer unterm Tannenbaum umgeht.

Mirja Kuckuk

sueddeutsche.de: Warum brechen die Menschen Weihnachten regelmäßig in Stress aus?

Weihnachten; iStockphotos

Weihnachten ist nicht für jeden ein Grund zu Freude. Dennoch gibt es Wege, das Fest angemessen zu feiern.

(Foto: Foto: iStockphotos)

Markos Maragkos: Stress ist eine einfache Gleichung: Der Mensch gerät in Stress, wenn Anforderungen an ihn gestellt werden, denen er nicht in gegebener Zeit gerecht werden kann. An Weihnachten muten wir uns - zu den alltäglichen Verpflichtungen - weitere Aufgaben zu, die wir dann unter Zeitdruck erledigen. Das Geschenkekaufen etwa.

Dazu besteht der gesellschaftliche Druck, dass es an Weihnachten ausgesprochen schön sein muss. Man will seinen Nächsten etwas schenken und gönnen. Ganz aktuell - in Zeiten der Krise - kann das Fest der Geschenke den Menschen zusätzliche Geldsorgen bescheren.

sueddeutsche.de: Eigentlich sollten doch die Feiertage eine stille, besinnliche Zeit sein. Warum dann diese Hektik?

Maragkos: Die Idee von der besinnlichen Zeit kann ein weiterer Stressfaktor sein. Man verbringt mehr Zeit zu Hause und mit der Familie. Stress entsteht daraus, dass man Verwandte besuchen muss, es aber eventuell gar nicht möchte. Dennoch möchte man die Erwartung erfüllen, dass gerade an Weihnachten alle besonders nett zueinander sind. Nur: Wird der Besuch bei der Tante oder Schwiegermutter zum Pflichtbesuch, ist Stress programmiert. Es ist schade, dass wir den Fokus oft nur noch auf das Erledigen von Dingen in diesen Tagen richten und nicht auf das Erleben. Wir "erleiden" Weihnachten vielmehr, als dass wir es als besinnliche Zeit wahrnehmen und genießen.

sueddeutsche.de: Wenn wir den Anspruch haben, harmonisch miteinander umzugehen - warum streitet es sich dann besonders schön unterm Tannenbaum?

Maragkos: Dort finden häufig Menschen zusammen, die das ganze Jahr über Zeit gehabt hätten, über Probleme zu sprechen - und es nicht getan haben. Wir befinden uns in einer Situation, die Nähe von uns verlangt. Doch wegen der ungeklärten Beziehung sind wir nicht dazu in der Lage und giften uns stattdessen an.

sueddeutsche.de: Warum lernen wir nicht daraus, sondern tun uns das jedes Jahr aufs Neue an?

Maragkos: Der Mensch ist ein Gewohnheitstier und er geht gern Schwierigkeiten aus dem Weg. Seine Motivation ist immer bedingt durch seinen aktuellen psychischen Zustand. Erlebt er an Weihnachten neben stressigen Momenten auch schöne mit den Verwandten, nimmt er sich eventuell vor, im nächsten Jahr Probleme gleich auf den Tisch zu bringen. Zurück im Alltag aber bestimmen ganz andere Faktoren seine psychische Konstellation, er besitzt ein "anderes" Ich - und hat schlicht seine Motivation vergessen. Das ist wie mit dem Rauchen aufhören: In einem ruhigen Moment hat man sich fest vorgenommen, nicht mehr zu rauchen. Steht man unter Stress und ein Kollege bietet einem eine Zigarette an, wirft man den Vorsatz leicht über Bord. Ganz einfach, weil der psychische Zustand ein anderer ist. Man muss solche Vorhaben üben.

sueddeutsche.de: Aber man kann ja nicht jeden Tag Weihnachten üben.

Maragkos: Was man üben kann, ist der Umgang mit Schwierigkeiten. Hilfreich ist zum Beispiel, sich eine Liste der zu bewältigenden Probleme zu machen. Die meisten Menschen schreiben allerdings zu viel auf ihre To-do-Liste und planen Termine, die sie nicht einhalten können. Darüber geraten sie zwangsläufig in Stress. Genauso verhält es sich mit Weihnachten: Auf meiner Liste sollte nicht stehen: "Ich will tolle Weihnachten feiern", sondern die entscheidende Frage ist: Wie möchte ich Weihnachten feiern? Wen lade ich ein oder wen besuche ich nicht?

sueddeutsche.de: Dennoch muss man Rücksicht auf die Wünsche und Erwartungen anderer nehmen.

Maragkos: Rücksicht ist natürlich wichtig. Es ist jedoch oft sinnvoller, einer Person ehrlich zu sagen, wenn man keine Zeit hat, als einen stressigen Pflichtbesuch abzustatten. Gleichzeitig kann man ihr vorschlagen, sich für Anfang des Jahres zu verabreden. Bevor man in Stress ausbricht, sollte man offen miteinander kommunizieren.

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"Wir erleiden Weihnachten"

sueddeutsche.de: Wie bekommt man denn kommunikativ die Kurve, wenn trotzdem Streit ausbricht?

Maragkos; oh

Markos Maragkos ist Diplom-Psychologe an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität.

(Foto: Foto: oh)

Maragkos: Dann sollte man sparsam mit Vorwürfen umgehen. Wenn ich das Gegenüber konfrontiere mit Sätzen wie: "Du hast aber ..." und "Du willst doch ...", fühlt sich der andere sofort angegriffen. Vielmehr sollte man von sich sprechen: "Ich habe den Eindruck, dass ..." oder "Mir wäre es lieber, wenn ...". Natürlich gibt es Familien, in denen die Fronten bereits verhärtet sind. Dann sollte man rechtzeitig ein klärendes Gespräch suchen - und zwar nicht erst am 20. Dezember. Das kann die Tür für Weihnachten öffnen.

sueddeutsche.de: Wir reden bislang über Menschen, die jemanden zum Streiten haben. Was können alleinstehende und einsame Menschen tun, die der Gedanke an das "Fest der Liebe" stresst?

Maragkos: Weihnachten ist für diese Menschen eine anspruchsvolle Zeit: Das Alleinsein tritt besonders deutlich zutage. Tagsüber sind keine Kollegen da, die einen ablenken könnten, die Abende sind lang. In der Weihnachtszeit können sich Depressionen verschlimmern. Ich rate dazu, Kontakte zu suchen - neue oder alte. Es gibt schließlich andere einsame Menschen. Wie feiern denn die Weihnachten? Über Kontaktbörsen im Internet kann man sich verabreden. Das ist alles andere als verwerflich, sondern eine gute Maßnahme gegen Einsamkeit. Man sollte sie nur rechtzeitig einleiten. Oder man nimmt Kontakt zu Menschen auf, denen man wegen mittlerweile "verjährter" Streits aus dem Weg gegangen ist. Auch das sollte man frühzeitig angehen.

sueddeutsche.de: Wie können Menschen mit dem Fest umgehen, die im vergangenen Jahr einen geliebten Menschen verloren haben?

Maragkos: Ich rate zu guten Ritualen. Räumen Sie der Person, die leider nicht mehr dabei sein kann, einen Platz ein. Es hilft, an Heiligabend ganz bewusst an den Verstorbenen zu denken, über ihn zu sprechen - und ihm vielleicht sogar ein kleines Geschenk zu kaufen. Als Zeichen dafür, dass man ihn nicht vergessen hat. Auch mit einem Foto kann man ihn in die Runde integrieren. Wenn Ihnen nach Weinen ist, unterdrücken Sie die Gefühle nicht. Weihnachten ist auch ein Fest, an dem man Traurigkeit teilen kann. Dennoch sollte man vermeiden, die Person in den absoluten Mittelpunkt zustellen. Man kann an sie denken und zugleich angemessen feiern.

sueddeutsche.de: Und wenn einem nicht nach Feiern zumute ist?

Maragkos: Hinterbliebene erlauben sich oft nicht, Weihnachten zu feiern. Sie fürchten, die verstorbene Person dadurch zu kränken oder zu "entehren". Sie verzichten auf ein Festessen, obwohl gerade das ein wichtiger Bestandteil ist. Doch im Gegenteil: Sie können die Person ehren und ihrer gedenken, indem Sie zum Beispiel ihre Lieblingsnachspeise kochen.

sueddeutsche.de: Was raten Sie Menschen, die sich vor lauter Traurigkeit zurückziehen?

Maragkos: Auf keinen Fall alleine bleiben an Weihnachten! Hinterbliebene haben häufig den Eindruck, sie können sich niemandem "zumuten". Sie glauben, mit ihrer Trauer die Weihnachtsfreude der anderen zu schmälern und lehnen deshalb Einladungen ab. Oder sie fürchten, die Freude anderer würde ihre Trauer nur verstärken. Ich rate Trauernden, die Gesellschaft von Menschen zu suchen, mit denen sie ihr Leid teilen können. Sie sollten versuchen, Weihnachten zu feiern - nicht trotz, sondern mit der Trauer.

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