Democracy Lab im Container:Freiheit zum Andersdenken

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Mit farbigen Karten erstellt das Publikum ein Meinungsbild (Foto: Livio Marc Stoeckli)

"Darf man das hier sagen?" Man darf, man muss sogar bei der ersten Diskussionsrunde im Democracy Lab. Ein Experiment mit vertauschten Rollen und der entscheidenden Frage: Was wäre eigentlich, wenn die anderen recht haben?

Von Dirk von Gehlen

Plötzlich steht diese eine Frage im Raum. Die Diskussion hat erst vor wenigen Minuten begonnen. Das Publikum bekundet gerade mit farbigen Abstimmungskarten ein Meinungsbild zu den Themen des Democracy Labs von Klimaschutz bis Flüchtlingspolitik, als eine Frau beim Stichwort "Obergrenze" die Frage stellt, die den Abend prägen wird.

Etwa vierzig Diskutanten sitzen an diesem sehr sonnigen und sehr heißen Mittwochabend in einem Veranstaltungscontainer im Werksviertel hinter dem Münchner Ostbahnhof, um etwas zu üben, was viele tun und nur wenige tatsächlich beherrschen: den demokratischen Streit. Deshalb testen sie im Rahmen des SZ-Projekts Democracy Lab ein Diskussionsformat, bei dem Menschen nicht in eine persönliche Auseinandersetzung geraten, sondern Meinungen auf sachlicher Ebene gegeneinander antreten sollen. Es ist der Auftakt für eine Reihe von Diskussionsveranstaltungen und trägt den Titel "Das ist deine Meinung". Menschen und Meinungen werden getrennt. Diskutanten müssen sich für drei Minuten von ihren eigenen Ansichten verabschieden und die Positionen der Gegenseite einnehmen. Die Herausforderung dabei: Sie müssen die anderen Meinungen so exakt auf den Punkt bringen, dass die Gegenseite zustimmt.

Im Rahmen des Democracy Labs haben sich die Diskutanten aufgemacht, unter Laborbedingungen Demokratie zu trainieren. Das mag pathetisch klingen, wird aber sehr greifbar, als aus einer der vorderen Reihen die zentrale Frage kommt. Eine Lehrerin hat beim Thema Flüchtlinge die magentafarbene Abstimmungskarte gezeigt. Sie sticht deutlich heraus aus der Mehrheit grüner Karten, die für eine "Wir schaffen das"-Haltung stehen. Die Lehrerin hingegen spricht sich mittels Karte für eine Obergrenze in der Zuwanderung aus - und schiebt die Frage nach: "Darf man das hier sagen?"

Andere Meinungen aushalten

Man darf. Mehr noch: Es ist die Idee des demokratischen Streits, dass auch die Minderheiten zu Wort kommen. Pluralismus in einer Demokratie bedeutet: die Bereitschaft, auch gegenteilige Meinungen auszuhalten. Denn erst diese Toleranz macht aus einem bloßen Wortgefecht ein echtes Gespräch. "Freiheit", hat Rosa Luxemburg gesagt, "ist immer die Freiheit des Andersdenkenden." An diesem Abend erfahren vierzig Frauen und Männer, dass man diesen Satz nicht nur als Appell an undemokratische Regime richten muss, die zum Beispiel Journalistinnen und Journalisten einsperren ( #freedeniz). Die Diskutanten spüren, dass der Satz auch auf diese Weise funktioniert: Freiheit ist immer die Freiheit zum Andersdenken.

Der Philosoph Hans-Georg Gadamer hat das so auf den Punkt gebracht: "Ein Gespräch setzt voraus, dass die Gegenseite recht haben könnte." Sich daran zu erinnern, ist eine vermeintlich schlichte, aber in der Anwendung doch anstrengende Aufgabe, der man sich täglich stellen kann: am Stammtisch, in Online-Debatten oder an der Kaffeetafel beim Familienfest, wenn ein Streit heraufzieht. Was wäre eigentlich, wenn die Gegenseite recht hätte?

Auf der Bühne müssen dann in Sachen Klimaschutz und Dieselgate Fahrverbots-Befürworter und -Gegner die Rollen tauschen. Und ein Lehrer und ein Schüler, die bildungspolitisch auf einmal nicht mehr für mehr Reformen beziehungsweise mehr Freiheit an den Schulen argumentieren können, sondern die genau gegenteilige Position vertreten müssen. Eine große Herausforderung, die aber gemeistert und mit Applaus und "Demokrabier" belohnt wird.

Wenn Schulz- und Merkel-Wähler die Rollen tauschen

Streiten üben bedeutet vor allem: die Bereitschaft zu trainieren, das Gegenteil zu denken. Es heißt, die Fähigkeit zu schulen, den Verdacht zuzulassen, dass der andere recht haben könnte. So hat Kurt Tucholsky Toleranz definiert - und an diesem Abend im Democracy Lab wird das greifbar. Das liegt natürlich auch an den Laborbedingungen des Experiments. Alle im Raum waren sich einig, dass sie an einer besseren Streitkultur arbeiten wollen. Alle akzeptierten die Grundregeln, keiner versucht, sich persönlich zu profilieren oder andere zu attackieren. Und dennoch: Unter Laborbedingungen kann man vielleicht im Kleinen eine bessere Streitkultur einüben - und damit Vorbilder schaffen für bessere Debatten in Talkshows im TV oder in Kommentarspalten im Netz.

Zudem hat das Experiment allen Teilnehmern neue Perspektiven eröffnet - und sei es nur die Möglichkeit zum Andersdenken. Auf der Bühne tauscht zum Beispiel ein Merkel-Unterstützer mit einem Schulz-Wähler die Rollen. Sie erklären dann sehr sachlich, warum der Kandidat der Gegenseite die nächste Bundesregierung anführen sollte. Das ist für die Diskutanten herausfordernd und zeigt dem Publikum auf unterhaltsame Weise neue Sichtweisen.

Als nach dem offiziellen Teil einige Diskutanten bei einem kühlen Getränk zusammenstehen, bringt einer, der kurz zuvor noch auf der Bühne stand, den Vorschlag auf, ein solches Format doch auch im Schulunterricht oder in innerparteilichen Diskussionen auszuprobieren. "Oder Sie machen ein Brettspiel daraus", sagt ein anderer und skizziert, wie man aus Kartenstapeln Positionen ziehen und präsentieren könnte. Keine schlechte Vorstellung, wie Vertreter unterschiedlicher Ansichten auf diese Weise vereint an einem Tisch sitzen und spielen. Man könnte das Spiel nach der Frage vom Anfang "Darf man das hier sagen?" nennen - oder noch besser: Demokratie.

Das Democracy Lab geht weiter: Nach der Auftaktveranstaltung im Container im Münchner Werksviertel laden wir Anfang September zu weiteren Debatten ein. Wir wollen dabei über die von Lesern ausgewählten Themen reden und weitere Diskussionsformate testen. Zu allen Veranstaltungen laden wir zeitnah auf SZ.de ein.

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