Erzählungen aus dem Holocaust:Traurige, aber wahre Geschichten

Die Zeitzeugen geben den Teilnehmern der Internationalen Jugendbegegnung in Dachau ihre Lebenserfahrung mit - und den Auftrag zur Erinnerung

Von Richard Möllers, Dachau

Samstag, 17.30 Uhr, im Max-Mannheimer-Haus. Der Saal ist gut gefüllt. Überall im Raum ein Stimmengewirr. Die jungen Besucher unterhalten sich in verschiedenen Sprachen, auf Englisch, Hebräisch, Spanisch, Italienisch oder Deutsch. Mit einer kleinen Verspätung treten zwei Männer auf die Bühne im Foyer des Jugendgästehauses. Sie begrüßen die Zeitzeugen und heißen alle Gäste herzlich willkommen. Noch ist es unruhig im Saal. Das ändert sich schlagartig, als der 89 Jahre alte Israeli Abba Naor die Bühne betritt. "Haben Sie eine Rede für mich vorbereitet?" fragt er die Moderatoren schmunzelnd. Lautes Lachen. Abba Naor hat das Publikum schon auf seine Seite gebracht. Danach wird er ernst und fragt auf Englisch: "Warum sind sie hergekommen?"

Gekonnt legt er eine Kunstpause ein. Es ist jetzt absolut still im Saal. "Haben Sie denn nichts Besseres zu tun? Sie könnten Urlaub machen, in Spanien oder auf Mallorca, stattdessen kommen Sie nach Dachau und hören alten Menschen zu, die traurige Geschichten erzählen. Sehr traurige, aber wahre Geschichten." Genau deshalb sind sie gekommen. Das Fest der Internationalen Jugendbegegnung, das vom gleichnamigen Förderverein in Dachau begründet wurde, jährt sich in diesem Jahr zum 35. Mal.

Internationales Fest

Die 92-jährige Zeitzeugin Esther Bejarano lauscht bei der Internationalen Jugendbegegnung Dachau dem Chor.

(Foto: Niels P. Jörgensen)

Abba Naor strahlt ein großes Maß an Weisheit aus und auch seine Erfahrung als Redner merkt man ihm deutlich an. "Ihr habt die letzten Überlebenden des Holocaust vor euch." Damit spielt er auch darauf an, dass dieses Begegnungsfest zum ersten Mal ohne den Namensgeber des Jugendgästehauses stattfindet. Der Auschwitz-Überlebende Max Mannheimer, Vizepräsident des Internationalen Dachau-Komitees und begnadeter Erzähler, starb am 23. September 2016 im Alter von 96 Jahren. Abba Naor schließt mit einem eindringlichen Appell an die Zuhörer: "Erzählt die Geschichte an alle weiter, die bereit sind zuzuhören. Versucht die Welt ein Stückchen besser zu machen, für junge und alte Menschen!"

Vertreter des Trägerkreises sprechen noch, Dachaus Oberbürgermeister Florian Hartmann (SPD), Vertreter des Landkreises und schließlich noch der Projektleiter Robert Philippsberg. Dann aber sind die Jugendlichen mit musikalischen Beiträgen dran. Musik verbindet. Auch darum geht es. "Love Is All You Need" ist einer der Songs, die ein achtköpfiger Chor ausgewählt hat. Die "Mozzarella Group", ebenfalls Teilnehmer der Jugendbegegnung, führt gleich ein Mashup aus mehreren deutlich aktuelleren Liedern auf. Das ist alles bei weitem nicht perfekt, scheint aber das Publikum nicht zu stören. Es bedankt sich mit tobendem Applaus bei allen Mitwirkenden. Dazu muss auch gesagt werden, dass die Teilnehmer der spontan zusammengefundenen Musikgruppen nur eine Woche Zeit hatten, um die Stücke zu proben.

Internationales Fest

"Love Is All You Need" ist einer der Songs, die ein achtköpfiger Chor ausgewählt hat.

(Foto: Niels P. Joergensen)

Schließlich kommt die Israelin Ela Gordin, 17 Jahre ist sie alt, und sie greift in ihrer Rede auf Englisch das Motto der diesjährigen Begegnung auf: "Erinnern, Begegnen, Verstehen, Zukunft gestalten." Erinnern sollen wir uns an den Mut und das Durchhaltevermögen der Opfer des Holocaust, erklärt sie. "Wenn wir fremden Menschen begegnen, haben wir oft Vorurteile oder sogar Angst vor dem Unbekannten. Dabei müssen wir verstehen, dass wir in den Augen eines anderen genau so fremd und unbekannt sind, und dass der Fremde dementsprechend Angst vor uns haben könnte", sagt die 17-Jährige. Angel Miguel aus El Salvador übersetzt ihre Rede auf Englisch in fast perfektes Deutsch.

Für die Zukunft sehen die beiden eine Länder übergreifende kollektive Verantwortung: die Erinnerung an die Naziverbrechen und den Holocaust aufrechtzuerhalten und dadurch zu vermeiden, dass sich ähnliches wiederholt, dadurch auch zu lernen, gegen Menschenrechtsverletzungen die Stimme zu erheben.

So denkt auch Marcia Nasse aus Italien. Die 18-Jährige kommt aus Fondi, der südöstlich von Rom gelegenen Partnerstadt Dachaus seit 1998. Als sie im Vorfeld des Treffens von ihrem Lehrer gefragt wurde, ob sie an der Jugendbegegnung teilnehmen wolle, habe sie gerne zugesagt. "Meine Reise wird finanziell gefördert, sodass ich keine Kosten habe, sagt sie. "Besonders gut gefällt mir, dass die Jugendlichen hier alle so nett und aufgeschlossen sind. Nur das italienische Essen fehlt mir", lacht die 18-Jährige.

Projektleiter Philippsberg zieht nach einer Woche Jugendbegegnung eine positive Zwischenbilanz: "Die Teilnehmer haben in ihrer Rede den Kern der Zusammenkunft präzise auf den Punkt gebracht: Vorurteile abbauen durch Begegnung." Der 35-Jährige greift einen Satz von Abba Naor auf. "Leider bleiben uns immer weniger Zeitzeugen, wenn aber die Teilnehmer ihre Erlebnisse weitererzählen entsteht ein Multiplikatoren-Effekt: So schaffen wir immer mehr Zeugen der Zeitzeugen." Aus diesem Grund ist Esther Bejarano wie schon im Vorjahr nach Dachau gekommen. Die 92-Jährige spielte in Auschwitz im Mädchenorchester. Ihre Eltern wurden im November 1941 in Kaunas ermordet. Aus Kaunas kommt Abba Naor, der als 13-Jähriger ins Ghetto getrieben wurde. Esther Bejarano will mit den Jugendlichen ein Lied singen, begleitet von Geige, Klavier und Gitarre. Der Titel bringt es auf den Punkt: "Wir leben ewig."

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