Rede:Ein Ausweg nach innen

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Vom Leben in einer Diktatur und einer Vergangenheit, die nicht vergeht: Mit dieser Rede hat die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller die Ruhrtriennale eröffnet.

1. Der Weg ins Tal lief die Dorfstraße hinunter, am Friedhof vorbei. Es war immer frühmorgens in den Sommerferien, wenn ich mit den Kühen ins Tal ging. Und hinterm Friedhof hörte das Dorf auf. Oder schon vor dem Friedhof, wenn man die Toten nicht mehr dazuzählen wollte. Den Dorfweg ging ich abwesend. Die Kühe kannten ja den Weg so gut wie ich. Erst wenn die Felder kamen, wachten meine Augen auf. Der Weg ins Tal verließ das Dorf, aber noch mehr verließ das Dorf mich. Ich trat in eine andere Wirklichkeit. Mit den Kühen war man allein. Ein Weideplatz reichte höchstens für zwei, drei Kühe. Jedes Kind musste mit seinen Kühen woanders hin.

Ich weiß nicht, ob ich einsam war, weil ich das Wort nicht kannte. In der Dorfsprache gab es nur das Wort allein. Und im Dialekt heißt das alleinig. Es hat eine Silbe mehr, nimmt sich ein bisschen mehr Zeit und klingt trauriger als allein. Weil ich das Wort einsam nicht kannte, kannte das Wort mich auch nicht. Ich wurde nicht zu dem, was das Wort bedeutet. Es schaute mir nicht in den Kopf, wollte gar nicht wissen, was ich tu und wie ich dabei bin. Manchmal macht es die Dinge einfacher, wenn man im Kopf nicht weiß, wie man gerade ist. Die Hilflosigkeit ging vielleicht nicht weg, aber ich wurde nicht von ihr angesprochen. Ich vergaß das Dorf mit den Menschen, war mit den Füßen und mit dem Kopf jetzt in einem Dorf aus Pflanzen. Hier im Tal waren sie die Bewohner.

Der Geheimdienst wollte mich zu Spitzeldiensten zwingen

Ich war bis abends eingeschlossen im Dorf der Pflanzen. Ich wollte zu ihnen gehören und inszenierte mit ihnen ein normales Dorfleben. Ich sprach laut mit ihnen, pflückte sie, legte sie nebeneinander, verglich sie, kostete, wie sie schmecken, sortierte sie nach Eigenschaften. Sie hatten Hände und Beine, Haare, Augen und Nasen im Gesicht. Sie waren mager, dick, frech oder scheu wie Menschen. Ich ließ sie miteinander lachen oder streiten, sich verstecken. Ich verheiratete sie, wenn ihre Gesichter zueinanderpassten. Ich sah, wie sie alt und krank wurden. Wie die schulterhohen Milchdisteln weiße Federn kriegten. Und an feuchten Tagen klebten sich die Federn in seltsamen Schleiern aneinander, wie Gespenster. An langen weißen Fäden flogen Puppen durch die Luft. Und die Federpuppen waren ihre Seelen. Ich wusste zwar nicht, was eine Seele ist, aber ich kannte dieses Wort aus der Kirche. Und so kannte das Wort auch mich und es schaute mir in den Kopf.

Und es war normal, dass dieser Blick auf Pflanzen nicht mit der Kindheit im Tal aufhörte. Ich kam mit 15 in die Stadt aufs Gymnasium, und das Panoptikum der Natur zeigte sich wie früher. Zwischen Beton und Asphalt am Rand der Gehsteige, in den verwahrlosten Parks wuchs Unkraut. Die Pflanzen kamen mir nach. Und mir schien, die wissen, was los ist in dieser Stadt. Sie kennen die bröckelnden Wohnblocks, die Armseligkeit, die Hast des Alltags, die chronische Trauer und Angst vor dem Staat.

Ich war so fremd hier, das einzige Bekannte war das Unkraut. Niemand kannte mich, ich hatte nur das mitgebrachte Vertrauen der Pflanzen.

Die Städter erschreckten mich. Wenn morgens endlich eine Straßenbahn kam, war das Einsteigen kollektive Rücksichtslosigkeit. Sie wurden handgreiflich, beschimpften sich gegenseitig, aber niemand schimpfte, weil die Straßenbahn so selten kam. Die Haupteigenschaft der sozialistischen Stadt war die allgegenwärtige schlechte Laune - eine Mischung aus privater Überreiztheit und politischer Gleichgültigkeit. Dazu kam eine steife Melancholie, matte Augen in schiefen Gesichtern. Das Aussehen der Leute hatte auch mit der Kleidung zu tun. Ein paar Staatsbetriebe machten ein paar Modelle für das ganze Land - staubgraue Farben und klobige Schnitte, die auf keinen Körper passten. Wenn man sich etwas Neues gekauft hatte, kam man sich auf der Straße selbst entgegen. Und mir schien, die Kleidung wusste so gut wie jeder von uns, dass wir keinen Ausweg haben und miteinander in all den Wiederholungen alle gleich hässlich werden müssen.

Im Tal hatten die Pflanzen viele Eigenschaften. Aber eine entdeckte ich erst jetzt. Ich bemerkte, dass Pflanzen schön sind. Dass alles, was sie an sich haben, zusammenpasst. Und dass sie auch neben- und durcheinander wachsend schön bleiben. Dass Schönheit auffallend oder versteckt sein kann. Dass versteckte Schönheit noch schöner sein kann als auffallende, weil das Schöne, wenn man es an der Pflanze entdeckt, plötzlich in einem selbst ist.

Ich ging viel zu Fuß, weil ich zur Stadt dazugehören wollte. Aber ich war nur an den Wegrändern zu Hause, nicht unter Menschen. Zu Fuß sah man die Stadt jedoch genau. Die Losungen der Parteipropaganda vom Gehsteig bis hinauf aufs Dach, bis unter den Himmel. Die großmäuligen Lügen vom Glück des Proletariats, denen niemand glaubte. Und am Wegrand die Stockbetrunkenen im Erbrochenen, die verkrüppelten Bettler, die Irren, die mit sich selber sprachen. Die Wahrsagerinnen, die einem privates Glück prophezeiten, denen man glaubte, weil man aufs Glück angewiesen war und sie ihre Geldgier so gut versteckten.

Fußwege sind Kopfwege. Jahre später kamen für lange Fußwege ganz andere Gründe dazu. Ich geriet in die Fänge der Geheimpolizei. Ich arbeitete in einer Maschinenbaufabrik als Übersetzerin. Der Geheimdienst wollte mich zu Spitzeldiensten zwingen. Weil ich mich weigerte, wurden die Besuche im Büro immer häufiger und länger. Manchmal kamen zwei Securisten, die auf Gut und Böse machten. Ihre Dramaturgie aus Schmeicheleien und Drohungen war widerwärtig. Und bevor sie mich heimsuchten, hatte ich oft schon ein, zwei Stunden Schikanen beim Direktor hinter mich gebracht. Er bestellte mich jeden Morgen zu sich und forderte mich auf, zu kündigen. Den Gefallen tat ich ihm nicht, es ging mir um Selbstbehauptung. Der Direktor hätte mich jeden Tag entlassen können, aber das war ihm zu harmlos. Er tat es Monate später, aber bis dahin wollte er noch seine Macht ausspielen und mich brechen.

Ich wusste, dass sich die Tage in der Fabrik nicht mehr ändern. Schon wenn der Wecker morgens klingelte, bekam ich Angst vor dem Tag. Oft dachte ich, man sieht mir auf der Straße meine Bedrücktheit an. Ich konnte nicht in die Straßenbahn, auch wenn sie noch so pünktlich gefahren wäre, hätte ich sie gemieden. Bis zur Entlassung ging ich jeden Morgen mehr als eine Stunde zu Fuß zur Arbeit.

Jedes Verhör war eine Kette von immer gleichen Verleumdungen

Ich brauchte den Fußweg und die Zeit, um mich zu sammeln. Ich musste meine Angst mit den Füßen zähmen und noch eine Weile über mir Bäume und Himmel sehen. In der ersten Nebenstraße stand ein Verkehrsschild mit einer durchgestrichenen Trompete. War hier die Straße des Schweigens? Der Mond war am Himmel. Ich sah ihn seine gelbe Trommel tragen, oder sein halbes Katzengesicht, oder er war schon so mager wie eine Haarnadel.

Trommel, Katzengesicht und Haarnadel waren keine Wortspielereien, es war die Wirklichkeit. Und ich hab gewusst, dass ich das auch meiner besten Freundin nicht erzählen sollte.

Es war wie auf dem Dorf, als ich meiner Großmutter auf dem Heimweg von der Kirche sagte: Das Herz der heiligen Maria ist ja eine durchgeschnittene Wassermelone.

Und darauf sagte sie: Das kann sein, aber das darfst du niemandem sagen.

Ich hielt mich daran und wusste seit damals, dass die Dinge verbotene Winkel haben und dass man mehr sieht, als man sagen darf.

Manche Tage wurde ich nach der Arbeit zum Geheimdienst bestellt. Seit der Weigerung war ich ein Staatsfeind. Seit der Entlassung auch noch ein parasitäres Element. Ich wurde stundenlang dasselbe gefragt. Oder man ließ mich allein, bis ich glaubte, man hätte mich vergessen. All die Vorwürfe wie Schwarzhandel, Prostitution, oder ich sei ein Spitzel des Bundesnachrichtendienstes waren erfunden. Jedes Verhör war eine Kette von immer gleichen Verleumdungen, ein absurdes Theaterstück.

Mein Kopf war durchwühlt, wenn ich endlich gehen durfte. Ich musste zu mir zurückfinden und suchte einen langen Heimweg durch die Nebenstraßen. Dort blühte eine kluge Ruhe in den Dahlien. Vor allem die perfekte Ordnung ihrer Blüten, die um den Nabel drapierten Rosetten. Die Selbstverständlichkeit, in der die Dahlie existierte, beeindruckte mich so, dass ich heulte. Dann war ich doppelt verzweifelt, weil ich mich vor mir schämte. Die Tage waren kurz, die Dahlien froren schon im grauen Licht und schimmerten von Weitem. Ich ging auf sie zu, ihre Ruhe übertrug sich auf mich. Ich war mir sicher, dass Dahlien wissen, wie satt ich dieses Leben hab und wie gern ich doch lebe. Eigentlich umso lieber, wenn der Vernehmer schmunzelnd und beiläufig sagt: Es gibt auch Verkehrsunfälle. Die Dahlien brachten wieder Ordnung in meinen Kopf, sie halfen mir. Es war wirkliche Anteilnahme.

Das war mehr als die Trommel, das Katzengesicht und die Haarnadel des Mondes. Diese kümmerten sich nur um sich selbst. Aber die Dahlie kümmerte sich um mich.

Mir war schon klar, die Dahlienhilfe gibt es nur, weil ich sie erfinde. Wer weiß, dachte ich mir, ob ich sie nur erfinde, weil ich daran glaube. Oder daran glaube, nur weil ich sie erfinde. Ob ich vielleicht sogar nichtglaubend daran glaube. Ich wollte das nicht klären, es war, wie es war. Sowieso hatte ich es nur mit mir zu tun, mit mir selbst anhand einer Dahlie. Von der Komplizenschaft mit der Dahlie durfte, wie damals im Tal, auch jetzt niemand wissen. Wem sollte ich sagen, dass in der Dahlie eine kluge Ruhe blüht?

Ist die Wahrnehmung, auch wenn ich es nicht weiß, meine Suche nach Schönheit? Und ist die Suche nach Schönheit Ersatz für die fehlende Freiheit?

Bevor ich schließlich aus der Fabrik entlassen wurde, streuten Spitzel im Auftrag das Gerücht, ich sei ein Spitzel. Der Direktor warf mich aus meinem Büro, und in anderen Büros wurde ich abgewiesen. Deshalb setzte ich mich mit meinen dicken Wörterbüchern auf die Betontreppe zwischen den Etagen. Und das Taschentuch, auf dem ich saß, war nun ein paar Wochen mein Zimmer. Die Büroleute gingen grußlos durch mein Zimmer. Erst vor Kurzem hab ich ein Gedicht von Thomas Brasch gefunden, das nicht nur auf mein Treppenzimmer passt:

"Wer durch mein Leben will, muss durch mein

Zimmer willst du verhaftet sein: jetzt oder immer

Wer in mein Leben will, geht in mein Zimmer."

Das passt alles auch auf die Besuche des Geheimdienstes in der Wohnung. Wenn ich wiederkam, war der Tür nichts anzusehen. Aber ein Küchenstuhl stand im Zimmer oder ein Apfel lag auf dem Bett. Es war das feine Gift, man sollte wissen, dass man in der Wohnung nicht mehr bei sich zu Hause ist.

Wenn überhaupt, dann dachte ich auf dieser Treppe höchstens, dass ich mitten in einer Fabrik so allein bin wie damals im Tal.

Die Lüge war in der Fabrik als Wahrheit installiert. Ich war eine erfundene Person, gegen die ich mich nicht wehren konnte. Gehörte ich mir noch? Im Tal wollte ich zu den Pflanzen gehören. Jetzt musste ich etwas tun, damit ich wieder zu mir gehöre. Und ich klammerte mich an meine Wahrnehmung. Um sicher zu sein, dass ich wenigstens die noch habe, musste ich sie aufschreiben.

Die Sätze gaben mir Halt wie die Dahlien. Und das Wichtigste daran war die Selbstbehauptung. Das Selbermachen in einer Welt, die mich fertigmachte. Daraus wurde eine Art Verteidigung gegen die Einmischung in mein Leben. Ich überließ mich der Suche nach Wörtern und dem Sog, der dadurch entstand. Das war ein Glücksempfinden, ein Worthunger, der das Erlebte verwandelte. Der Spagat zwischen Erleichterung und Angst, das Gemisch wie Zucker und Galle war so turbulent, dass ich mich darin vergessen konnte, weil ich ganz anders zu mir zurückfand. Ich spürte, wie ich zu diesen Sätzen gehöre, sie waren ein Ausweg. Ein Ausweg nach innen.

2.Wahrnehmung hört nicht beim Sehen mit den Augen auf. In jeder Wahrnehmung entsteht ein Wissen über Zusammenhänge, das von sich selbst überrascht wird. Daher erzeugt Wahrnehmung mehr als ein Spiegelbild der Wirklichkeit. Für die Besitzer der Wirklichkeit ist Wahrnehmung immer schon suspekt gewesen. In allen gewesenen und heutigen Diktaturen beanspruchen die Besitzer der Wirklichkeit die Deutungshoheit über die Wahrnehmung. Oft kommt der Anfang des Totalitären harmlos daher, als ginge es nur um den guten Geschmack, um die Verletzung der Gefühle, die Gewöhnung an einige Grenzen, über die man sich im Schreiben oder Malen nicht hinwegsetzen dürfe. Und dann kommt Schritt für Schritt immer noch eine Grenze hinzu. Die Zensur wollte immer schon nicht nur Bücher und Bilder, nicht nur Kunst verbieten, sondern die Wahrnehmung der Welt, aus der heraus die Kunstwerke entstanden sind.

Schon im kleinen Dorf wurden Grenzen gezogen.

Meine Großmutter sagte mir manchmal: "Denk nicht dorthin, wo du nicht sollst."

Der Ton war gar nicht böse, sondern eher besorgt, vielleicht sogar zärtlich. Aber der Satz reichte, um zu spüren, dass ich in Verdacht geraten kann, im Kopf nicht normal zu sein, also krank. Jemand sei aus der Art geschlagen, war im Dialekt eine gängige Feststellung. Man sagte das über Personen, die ganz anders als die anderen in der Familie waren. Gemeint war damit etwas mehr als nur ungewöhnlich, es zielte schon auf ungehörig.

Oft frage ich mich, ob ein Wort froh ist, wenn ich es benutze

Wenn ich heute auf die ahnungslose Verwendung von "aus der Art geschlagen" zurückschaue, wird es mir mulmig. Mulmig wird mir, weil ich heute weiß, dass "aus der Art geschlagen" sprachgeschichtlich der Vorstellung von Entartung und entarteter Kunst zugrunde liegt. Denn wie selbstverständlich wurde bereits vor den Nazis die entartete Kunst auf die Entartung der Künstler zurückgeführt.

In den Landschaften und Stillleben von Emil Nolde brennen und flackern die Farben. Als würde der Himmel zerplatzen, so gelb kann bei ihm die stechende Sonne sein. Und die Ordnung der Dahlie löst sich bei ihm in einem dicken Blutfleck auf.

Die Fremdheit dieser Farben konnten sich die Nazis nur durch ein krankes Hirn erklären. Emil Nolde nützte es gar nichts, dass er überzeugter Nazi und Antisemit war. Für sie war er trotzdem entartet.

Ich hatte mehr Glück als viele andere und konnte die Diktatur verlassen. Aber sie hat mich nicht verlassen. Ich geh durch irgendeine deutsche Stadt, und die Straße entlang fährt ein Umzugsauto. Darauf steht in riesigen Buchstaben: "Wir machen ihren Möbeln Beine". Das soll verlockend sein. Doch mir stockt der Atem und das Herz klopft bis in die Stirn. Was weiß so ein Umzugsauto von Heimsuchungen durch Geheimdienste, nach denen Stühle aus der Küche im Zimmer stehen. Es kam etwas schrecklich Fremdes in die Wohnung, weil die Möbel Beine hatten. Und es blieb, wenn man die Wohnung verließ, im Kopf. Es blieb sogar im Kopf, wenn man das Land verließ.

Früher durfte ich nicht einmal in andere osteuropäische Länder reisen. Aber nun konnte ich durch Europa reisen und ich wollte mich bei Freunden melden, ihnen Grüße schicken. Überall gab es die immer gleichen Ansichtskarten. Sie waren kitschig, blauer Himmel, rote Dächer, dickes Grün in den Bäumen. Da fing ich an, mir selbst Postkarten zu machen. Ich kaufte weiße Karteikarten, einen Klebestift und eine kleine Schere, die man damals noch mit ins Flugzeug nehmen durfte. Dann schnitt ich aus der Zeitung ein Bild und ein paar Wörter aus. Ich klebte einzelne Sätze auf die Karte: "Wenn es einen Ort wirklich gibt, dann streift er das Verlangen."

Ich war wie besessen, kaum saß ich im Zug oder Flugzeug, fing ich zu kleben an. Die Zeit verging ohne mich, ich spürte sie nicht.

Zuerst benutzte ich nur schwarz-weiße Zeitungswörter. Später entdeckte ich, dass gleiche Wörter durch verschiedenes Aussehen ihren Charakter ändern. Sie werden Unikate. Ich suchte mir die Wörter nach Farben, Größen, unterschiedlicher Schrift aus. Ich begann, auch zu Hause Wörter auszuschneiden. Heute liegen Abertausende in kleinen Schubladen. Aus den Texten mit den immer gleichen schwarz-weißen Wörtern wurden nun kleine Theaterstücke aus bunten Wörtern. Das dazugehörige Bild ist geblieben, es stellt sie in einen Raum wie ein Bühnenbild.

Im Tal damals war es ein Dorftheater mit Pflanzen. Auf den Karten spielen nun Wörter in unterschiedlichen Kostümen ihr eigenes Drama.

In meinen Wörterschränkchen sind sie zwar alphabetisch geordnet, liegen in den Schubladen jedoch alle zusammen. Die Schubladen jede für sich ein Wartesaal. Oft frage ich mich, ob ein Wort froh ist, wenn ich es benutze. Ob es in einen Text wie in einen Zug einsteigen will, oder nicht lieber gewartet hätte auf einen späteren Zug mit all den anderen. Manche Wörter liegen seit Jahren in der Schublade, sie werden alt, das Papier vergilbt und wird spröd. Sie bekommen Falten. Wenn sie dann aber einmal eingestiegen sind, sind sie festgeklebt. Dann ist etwas geschehen, das sich nicht mehr ändern lässt. Wie so oft im Leben.

In den ersten Jahren in Deutschland wollte ich die schönen Zeitschriften vor der Mülltonne retten. Vielleicht weil ich mich selbst als gerettet empfand. Es kann aber auch sein, dass ich nur das Zerbrochene in mir selbst wieder zusammenkleben wollte. Ich tu es bis heute.

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