Nationalsozialismus:Der rote Hitlerjunge

Nationalsozialismus: Günter Lucks

Günter Lucks

(Foto: privat)

Günter Lucks kämpfte als Hitlerjunge in Deutschlands letztem Aufgebot gegen die Rote Armee. Wie der 16-jährige Kommunist gegen seine Überzeugungen töten musste.

Von Harald Stutte, Hamburg

Anfang April 1945, Günter Lucks war gerade mal 16 Jahre alt, da zog er eine desaströse erste Bilanz seines noch jungen Lebens. Er hockte in einem Loch im südmährischen Dürnholz (heute Drnholec) nördlich des niederösterreichischen Weinviertels. In der Hand einen Karabiner 98, ein altes, aber sehr präzises Gewehr. Gegenüber, in etwa 100 Meter Entfernung, sah er einen Toten liegen, einen sowjetischen Soldaten. Der lag dort mit in den Himmel gerecktem, angewinkeltem Arm, als würde er sich ausruhen. Lucks wusste, dass er diesen unbekannten Menschen getötet hatte.

Die Front war hier nördlich von Wien für Tage erstarrt, weil die Rote Armee in jenen Apriltagen den Druck auf die Reichshauptstadt Berlin massiv erhöhte. Die Gegend um Niederösterreich und Südmähren galt da eher als Nebenkriegsschauplatz. Am Tag zuvor hatte ihn sein Gruppenführer, der mit einem Fernglas ausgerüstet hinter ihm im Loch hockte, ermuntert: "Günter, da ist einer, hol den mal wech!" Und Lucks, heute würde man ihn "Sniper" nennen, Heckenschütze, tat, wie ihm befohlen.

Er war der beste Schütze seiner Einheit, war sogar in einem kurzen Lehrgang dazu geschult worden und erfüllte die in ihn gesetzten Erwartungen. "Es war abstrakt, wie ein Spiel. Der Russe stürzte und lag dann da", erinnert sich Lucks. Vom Gruppenführer gab es Schulterklopfen und Lob: "Den hast du erwischt, gut gemacht."

Doch das gute Gefühl - es wollte sich bei Günter Lucks nicht einstellen. Es passierte ansonsten nicht viel, an jenem Tag im Städtchen Dürnholz. Und weil der Russe am nächsten Morgen immer noch dort lag, wegen der fehlenden Deckung konnten die Rotarmisten ihren Kameraden nicht bergen, begann Lucks zu grübeln. "Sieh an Günter, das haben sie aus dir gemacht" - eine Tötungsmaschine der Waffen-SS. Da hatte Lucks schon mehrfach getötet. Wie konnte es nur so weit kommen?

Plötzlich war er Nazi, Angehöriger der Waffen-SS

Er dachte zurück an den roten Osten Hamburgs, seine Heimat, sowohl politisch als auch geografisch. Lucks war das Kind einer zutiefst kommunistischen Familie. Schon der Großvater hatte der Arbeiterlegende August Bebel die Hand geschüttelt, war im Ersten Weltkrieg aus der SPD aus- und in die USPD, später in die KPD eingetreten. Sein Vater war ein stadtbekanntes Mitglied im Roten Frontkämpferbund, der militärischen Organisation der KPD. Seine Mutter hatte als "rotes Lieschen" ebenfalls lokale Prominenz.

Ernst Thälmann, Etkar André, Fiete Schulz und Heinz Neumann - die überwiegend aus Hamburg stammende oder in Hamburg aktive Elite der deutschen Kommunisten - sie waren seine Vorbilder. Als Kind hatte er auf Etkar Andrés Schoß gesessen und mit seinem Schäferhund gespielt, vor dem ihm zunächst ein wenig bange war: "Hab keine Angst, Lütter, der beißt nur Nazis", hatte André ihm zugerufen und lauthals gelacht. "Jetzt hätte er mich wohl gebissen", dachte Lucks an jenem Morgen im April 1945. Denn er war nun ein Nazi, ein Angehöriger der Waffen-SS, Heinrich Himmlers berüchtigter Elite-Truppe, die aber längst schon keine mehr war. Sondern teils aus Kindersoldaten bestand, wie er einer war.

In der Sowjetunion hatte die Familie Lucks stets eine Art Paradies auf Erden gesehen. Wie für Katholiken der Kirchenbesuch, so war für die Eltern des kleinen Günter der Besuch der Demonstrationen am 1. Mai nie lästige Pflicht, sondern eine Sache des Herzens gewesen. Sie hatten keinen Gott verehrt, dafür aber die gottgleichen kommunistischen Überväter Karl Marx, Friedrich Engels und Wladimir Iljitsch Lenin. Ihre "Enzykliken" bekamen sie nicht vom Heiligen Vater, sondern von den Vorsitzenden der maßgeblichen Kommunistischen Parteien, Thälmann in Deutschland und Josef Stalin in der Sowjetunion. Der Kreml, das Machtzentrum des ersten sozialistischen Landes der Erde, war für die Familie Lucks ungefähr dasselbe wie der Vatikan für die Katholiken. Kurzum: Sie waren Gläubige gewesen, ohne religiös zu sein.

Freiwillig für Hitler in den Krieg

Und jetzt war er für Hitler in den Krieg gezogen - freiwillig. Zunächst war er dem Aufruf für den Volkssturm gefolgt, der an alle "waffenfähigen Männer im Alter von 16 bis 60 Jahren" ging. Dann war er nach einer kurzen Ausbildung von der Waffen-SS kassiert worden, ohne Widerspruch. Nur einer aus dem Heer der mehr als tausend "freiwilligen" 15- und 16-Jährigen hatte Rückgrat bewiesen und "Nein" gesagt: "Waffen-SS? Meine Eltern haben mir das untersagt ..." Und dann geschah das, was wohl keiner der Jugendlichen erwartet hatte: Der Obersturmbannführer, der nach einer markigen Rede die Kindersoldaten übernehmen wollte, goss seine Häme "über den Weichling" aus - aber schickte ihn tatsächlich nach Hause. Warum nur hatte Günter nicht auch so reagiert?

Jetzt, im Schützenloch bei Dürnholz, war es ohnehin zu spät. Der Krieg war verloren, das sahen selbst die naivsten Optimisten ein. Viele der Jugendlichen hatten sich bei den Bauern Zivilkleidung besorgt, kurze Hosen zum Beispiel. Sie hatten sich auf den langen Fußmarsch Richtung Heimat begeben. Und waren doch nur bis zum nächsten Dorf gekommen, wo sie von der Feldgendarmerie, den sogenannten Kettenhunden, umgehend erschossen oder am nächsten Baum aufgeknüpft wurden.

Andere seiner jungen Mitstreiter waren den sowjetischen Granatwerfern, nicht sehr lauten und daher hinterhältigen Waffen, zum Opfer gefallen. Auch jener Cohen, mit dem er lange Zeit im gleichen Schützenloch gehockt und den er nur für einen Augenblick verlassen hatte - den entscheidenden, der ihm das Leben gerettet hatte.

Blasse Kindergesichter unter zu großen Stahlhelmen

Sie waren eine erbarmungswürdige "Armee": "Es waren Buben, blasse Kindergesichter, die Feldblusen viel zu groß. Ihre dünnen Finger verschwanden unter zu langen Ärmeln, die schmalen Gesichter unter zu großen Stahlhelmen", beschrieb ein gewisser Hauptmann Otto Haffner, ein Zeitzeuge, in seinen Aufzeichnungen. Längst hatte es Lucks bereut, sich für den Krieg gemeldet zu haben.

Eigentlich wollte er ja nur dem tristen Leben in einem Hamburger Ruinenkeller entfliehen, in dem er mit seiner Mutter und ihrem neuen Mann sowie zwei Halbgeschwistern ein jämmerliches Dasein fristete. Denn Günter Lucks war schwer traumatisiert, hatte als 14-Jähriger mit knapper Not den Hamburger Feuersturm überlebt, das alliierte Bombeninferno der "Operation Gomorrha" im Juli 1943.

Er war in einem mehrstöckigen Wohnhaus von einer brennenden Holzwand begraben worden und in Ohnmacht gefallen. Als er wieder aufgewacht war, lag er im Treppenhaus und sah seinen ein Jahr älteren Bruder Hermann, der ihn beruhigte: "Bleib liegen, Günter, ich hole Hilfe." Dann rannte Hermann los - und kam nie wieder. Verbrannt, von Trümmern erschlagen, durch Sauerstoffmangel erstickt - was auch immer. Hermann wurde eines der zahllosen Opfer der Bombardements. Allein und in Todespanik wankte Günter Lucks durch die brennenden Straßen des Hamburger Ostens, durch die der berüchtigte Feuersturm fegte.

Nach der politischen Vernichtung des "roten Hamburger Ostens" durch die Nazis wurde er Zeuge der physischen Auslöschung so traditionsreicher Arbeiterbezirke wie Hammerbrook oder Rothenburgsort durch alliierte Bomben. Folgenreich für den Jungen war auch das Scheitern der Ehe seiner Eltern, beide gründeten neue Familien, so dass es nach dem Tod seines Bruders eine Phase gab, in der sich Günter Lucks fühlte wie der einsamste Mensch der Welt.

Ende April 1945 jedenfalls, dieser schreckliche Krieg sollte nur noch wenige Tage dauern, wurde er in Niederösterreich von einer Granate an Arm und Rücken schwer verletzt. Er war gerade mit dem Einsammeln nichtverbrauchter Munition beschäftigt, an allem herrschte bereits Knappheit, da vernahm er dieses leise Flattern in der Luft. Zeit, sich zu verstecken, blieb nicht. "Es traf mich wie der Schlag mit einem armdicken Holzknüppel. Ich fiel um, war bei vollem Bewusstsein und hatte keine Ahnung, wie verletzt ich tatsächlich war."

Verräterische Tätowierung im Oberarm

Als ein Kamerad ihn zum Sanitätsplatz tragen wollte, traf ihn der Schuss eines Maschinengewehrs auch noch ins Gesäß. Lucks überlebte, wurde operiert, ein Sanitätszug sollte ihn in die Heimat bringen. Doch dazu kam es nicht mehr. Der Zug steckte im Niemandsland zwischen amerikanischen und sowjetischen Truppen fest, scheinbar im Jenseits von Zeit und Raum. Der Krieg war zu Ende und niemand kümmerte sich um diese Elendsfuhre - fast vier Wochen lang. Als Mitglied der Waffen-SS war er durch das verräterische Blutgruppenmerkmal im linken Oberarm, das fast alle Mitglieder dieses Verbandes tätowiert bekamen, stigmatisiert. Erneut stand Lucks Höllenängste aus: Geriet er in tschechoslowakische Gefangenschaft kam das einem Todesurteil gleich, auch die Russen kannten mit Hitlers "Elite-Soldaten" keine Gnade, zumeist wurden sie umgehend erschossen. Also hoffte er, in amerikanische Gefangenschaft zu geraten. Vergeblich!

Er blieb am Leben, weil er gegenüber den Russen nie versuchte, seine SS-Mitgliedschaft zu leugnen wie so viele andere. Er log nicht, erklärte offen, wie er in diesen verbrecherischen Kampfverband geraten war und erwarb sich damit offenbar den Respekt seiner Bewacher. Und weil er aussah wie ein Kind. Doch während andere Jugendliche seines Alters, zumal verletzt wie er, umgehend nach Hause geschickt wurden, begann für Günter Lucks eine neue Leidenszeit - eine viereinhalbjährige Odyssee durch zahlreiche Gefangenenlager in der Sowjetunion.

Oft war er dem Tod näher als dem Leben - im Viehwagon ohne Nahrung bei Frost, geplagt durch seine nicht heilen wollenden Verletzungen, immer wieder als SS-Angehöriger Prügel ausgesetzt. Doch Günter Lucks verbitterte nicht, er gab nie auf. Und er sah auch in seinen Bewachern und Peinigern stets die Menschen, Opfer eines schrecklichen Krieges, der von seinem Land ausgegangen war. Eines Krieges, der in den Ländern, die er überzog, noch viel größeres Leid ausgelöst hatte.

Als Lucks im Januar 1950 zurück in seine Heimatstadt Hamburg kam, hatte er sich verändert. Er fand zurück zu seinen kommunistischen Wurzeln, siedelte Mitte der Fünfzigerjahre mit seiner jungen Frau sogar in die DDR über - kehrte aber nach nur eineinhalb Jahren im Braunkohlenrevier zutiefst ernüchtert in seine Heimatstadt zurück.

Günter Lucks  Krieg

Günter Lucks heute.

(Foto: Florian Quandt)

Seine politische Odyssee beendete er, bitter enttäuscht von ideologischer Engstirnigkeit und Dogmatismus, als überzeugter Demokrat und Gewerkschafter. Heute gestaltet Günter Lucks, 88-jährig, als Mahner vor Krieg und Totalitarismus, auch in Hamburger Schulen als Zeitzeuge Geschichtsstunden.

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Lucks war erst im hohen Alter bereit, die Geschichte seiner Jugend zwischen roter und brauner Indoktrination sowie die eines SS-Kindersoldaten niederzuschreiben. Die drei Bücher von Günter Lucks und des Autors Harald Stutte "Der rote Hitlerjunge", "Ich war Hitlers letztes Aufgebot" und "Hitlers vergessene Kinderarmee" sind im Rowohlt-Verlag erschienen.

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