Prozess in München:Opfer oder Täter?

Die Grenzen der Selbstverteidigung: Ein Mann wird angegriffen, sticht in Notwehr zu - und muss für fast vier Jahre ins Gefängnis.

Alexander Krug

In diese Situation kann jeder einmal geraten - und deshalb sind diese Fragen auch von solcher Brisanz: Es geht um das Recht zur Notwehr. Und es geht darum, wo die Notwehr endet und wo die Phase beginnt, in der man selber damit rechnen muss, auf der Anklagebank zu landen. Knapp einen Monat lang hat das Schwurgericht genau diesen Fall verhandelt. Und am Ende hat es hervorgehoben, dass bei der Wahl der Notwehr-Mittel stets die Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben muss. Und deshalb hat es am Freitag Sven G. wegen versuchten Totschlags verurteilt. Die Strafe: Drei Jahre und neun Monate Haft.

Prozess in München: Wie weit darf man bei der Selbstverteidigung gehen? - Sie muss im Verhältnis zum Angriff stehen, argumentiert das Gericht.

Wie weit darf man bei der Selbstverteidigung gehen? - Sie muss im Verhältnis zum Angriff stehen, argumentiert das Gericht.

(Foto: Foto: ddp)

Sven G. ist gebürtiger Münchner und noch nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Er wirkt bedächtig und abgeklärt, dazu passt auch sein Hobby, das Angeln. In seinem Informatik-Studium hat er sich viel Zeit gelassen. Obwohl bereits 30 Jahre alt, war er erst im elften Semester. Wenn es eine Auffälligkeit gab im Leben des Sven G. dann vielleicht die seiner neben dem Angeln zweiten Passion: das Sammeln von Messern.

Sturzbetrunken

Ein kleines Messer hatte er auch dabei, als er an jenem verhängnisvollen 14. März vorigen Jahres mit Freuden zu einer Feier aufbrach. In der Nähe des U-Bahnhofes Garching trifft die Gruppe auf eine Jugendclique um Mergim S. Der 17-Jährige ist sturzbetrunken, führt sich auf wie ein Halbstarker. Nur kurz zuvor hatte er eine Prügelei mit einem anderen Jugendlichen, nun ist er offensichtlich auf weiteren Ärger aus.

Auch Sven G. ist nicht mehr nüchtern, 1,8 Promille werden später ermittelt. Es kommt zu einem Wortwechsel, Mergim S. schlägt einen Freund von Sven G. zu Boden. Dann wendet er sich an Sven G und fragt: "Was schaust du so?" Sven G. ist 1,85 groß und wiegt 95 Kilo, Mergim S. ist 1,75 und 20 Kilo leichter. Er schubst den Älteren und versucht nach ihm zu schlagen. Sven G. weicht aus, greift zum Messer und sticht es Mergim S. unvermittelt in den Hals. Der Stich geht knapp an der Halsschlagader vorbei, S. überlebt dank sofortiger Notoperation. "Nur zwei Zentimeter weiter und er wäre tot gewesen," sagt Richter Manfred Götzl.

Ob Sven G. dies bewusst war, ist fraglich. Er fühle sich nicht als Täter, sondern als Opfer, hatte er zu Beginn des Prozesses gesagt. Obwohl er diese Äußerung im Laufe der Verhandlung revidierte, lag sie wie ein Schatten über dem Verfahren. "Dass man sich vom Täter zum Opfer macht, haben wir hier noch nicht erlebt", meinte ein sichtlich verärgerter Richter Götzl.

Lesen Sie auf Seite 2, wie der Richter sein Urteil begründet.

Opfer oder Täter?

Aber war G. denn nicht das Opfer, als ihn S. attackierte? Für die Strafkammer liegt der Fall klar: Der "körperlich deutlich überlegene und zudem bewaffnete" Sven G. habe mit dem Stich "überzogen" gehandelt. "Es gab zwar eine Notwehrlage", so Richter Götzl, doch der Einsatz des Messers sei unverhältnismäßig gewesen. "Sie sind über das zulässige Maß weit hinausgegangen", wirft er dem Angeklagten vor.

Er habe den Jugendlichen mit keinem Wort gewarnt und auch das Messer so versteckt gehalten, dass dieser es nicht bemerkt habe. Schließlich habe er auch gegen den Hals gezielt und nicht gegen Arme oder Beine. Auch das Argument des Angeklagten, er habe in "panischer Angst" reagiert, lässt die Kammer nicht gelten. Nach dem Strafgesetzbuch (StGB) wird nicht bestraft, wer "aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken" die Grenze der Notwehr überschreitet (siehe unten). Doch dafür gibt es aus Sicht der Richter keine Anhaltspunkte.

Messer und Baseballschläger

Sven G. habe "zielgerichtet" zugestochen und auch sein überlegtes Verhalten nach der Tat lasse nicht erkennen, dass er in Angst gehandelt habe. Denn Sven G. hatte nicht etwa die Polizei informiert oder Hilfe geholt - was möglicherweise sogar als strafbefreiender Rücktritt von der Tat gewertet worden wäre. G. war vielmehr in seine Wohnung geflüchtet, wo er Messer und einen Baseballschläger bereit gelegt hatte, um gegen einen Angriff der Jugendlichen gewappnet zu sein.

In der "Gesamtschau" stufen die Richter die Tat als "minder schweren Fall" ein. Der Ankläger hatte sogar vier Jahre und sechs Monate gefordert. Die juristische Bewertung ist eindeutig - die menschliche umso schwieriger. Letztere scheint etwas auf der Strecke geblieben zu sein in diesem Fall, der eben grundsätzlich jedem passieren kann, der sich gegen einen Angreifer wehrt. Die Verteidigung wird daher wohl Revision gegen das Urteil einlegen.

Aktuelles Lexikon: Notwehrexzess

Nach dem Strafgesetzbuch (StGB, Paragraph 33) geht ein Täter dann straffrei aus, wenn er "aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken" die Grenzen seiner Notwehr überschreitet. Die Juristen sprechen in einem solchen Fall von einem intensiven Notwehrexzess. Die Abwägung dabei ist äußerst kompliziert. In der Kommentierung (Tröndle/Fischer) heißt es dazu, der Täter muss "durch ein gesteigertes Maß an Angst" zur Notwehrüberschreitung hingerissen worden sein. Die bloße Furcht reicht demnach nicht aus, um sich auf diesen Paragraphen zu berufen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: