Nachruf auf John Ashbery:Jam-Session der Götter

Nachruf auf John Ashbery: Der flimmernden Bewegung des Bewusstseins war er in seinen Gedichten auf der Spur, ihm entging kein Mienenspiel: John Ashbery 1992 in der Münchner Glyptothek.

Der flimmernden Bewegung des Bewusstseins war er in seinen Gedichten auf der Spur, ihm entging kein Mienenspiel: John Ashbery 1992 in der Münchner Glyptothek.

(Foto: Isolde Ohlbaum)

John Ashberys Werke waren wie Free-Jazz - die pure Kraft der Assoziation. Nun ist der große amerikanische Dichter im Alter von 90 Jahren in New York gestorben.

Von Nico Bleutge

Wer in John Ashberys Gedichten zu lesen beginnt, fühlt sich wie vor einer Rhythmusmaschine. Nur dass er bisweilen selbst an den Reglern sitzen darf, um die Momente neu auszusteuern. Eine "Jam Session // der Götter", hat Derek Walcott es einmal genannt, "die irgendein Instrument hervorholen / grad was ihnen in den Schädel kommt". John Ashbery kam tatsächlich alles in den Schädel. Fortwährend spielt er in seinen Zeilen mit Assoziationen, die der Leser "durchriffelt", bietet kleine Stücke aus Sprache, die er wieder und wieder variiert. Und wie der Sprecher des Textes changiert man beim Lesen zwischen Nachdenken und Staunen, Ruhe und Euphorie.

"Ich habe das Gefühl, sobald ich versuche, darüber zu sprechen, entgleitet mir alles", hat Ashbery in einem Interview erzählt. Damit meinte er nicht nur die Unmöglichkeit, über seine eigenen Gedichte zu reden, sondern die flimmernde Bewegung von Bewusstsein überhaupt. Wie die Vorstellungen sich verbinden oder abstoßen, wie eine Erfahrung zum Schreibenden durchdringt, wie überhaupt das Denken in der Sprache abläuft. Keineswegs negativ ist dieses Entgleiten gefasst, sondern in einem ganz und gar emphatischen Sinne. Ashbery ging es um nicht weniger als die Kraft der Assoziation.

Einen festen Grund gibt es in diesen Gedichten nicht, allenfalls ein Gefüge von Wellen

Mit "Nachrichten aus dem biografischen Hinterland", wie er es in einem Gedicht genannt hat, ging er äußerst sparsam um. Geboren wurde Ashbery 1927 in Rochester im Bundesstaat New York. Nach einem Studium der Anglistik und Romanistik lebte er eine Weile in Paris. Vielleicht schärften seine dortige Arbeit als Kunstkritiker und die Gespräche mit den vielen Malern, die er zu seinen Freunden zählte, seinen Sinn für die Beweglichkeit aller Weltmomente.

Sein Zauberwort war "Gleichzeitigkeit": der fluide Lauf der Zeichen, das Switchen von Bildern und Wahrnehmungen zu Lautreihen oder kleinen Gedanken. Nicht von ungefähr lautet der Titel eines seiner berühmtesten Langgedichte "Flowchart" (dt. "Flussbild"). Dort vollzieht sich alles "in der Matrix / unserer täglichen Gedanken und Phantasien, im Staunen darüber, / wie wir von dort nach hier gelangt sind". In dieser Matrix verfangen sich Landschaften, aber auch Reflexionen über Politik oder den "schwammigen Grund" unserer Existenz. Vielleicht ist das, was wir "Welt" nennen, heißt es einmal, ja nichts anderes als ein Gewässer aus sinnfreien Zeichen. Vielleicht aber auch nur ein "überdimensioniertes Baseballfeld".

Ebenso verhält es sich mit jener Vorstellung, die bei den Philosophen den großen Namen "Subjekt" trägt. Keine Instanz oder gar ein Maß im Hintergrund ist das "Ich" in Ashberys Gedichten. Eher ein Ensemble von Schichten, von Häutchen vielmehr, die sich dauernd gegeneinander verschieben. Dann wieder gleichen die Stimmen seiner Verse Tropfen, die auf eine ölige Wasserfläche fallen. Einen festen Grund gibt es hier nicht, allenfalls ein Gefüge von Wellen, die man als Leser anbranden sieht, sich brechen - bis alles wieder geglättet ist, wie vorher. Und doch ist alles verändert.

Das Gedicht kann bei Ashbery Wörter und Sprachfunde aus den unterschiedlichsten Bereichen zusammenziehen, Dinge, die scheinbar nicht zusammenpassen, die sich gegeneinander verkanten und die so wirken, als führten sie zunächst einmal ins Nirgendwo - und mit denen der Dichter doch etwas anstellt. Es kann Wahlverwandtschaften und Affinitäten innerhalb der Wörter und ihrer Bedeutungsnuancen aufspüren. Die Sensibilität eines Gedankens zeigen, ein Wort, das plötzlich in der Landschaft steht, oder die Erfahrung, dass ein Gefühl von Reflexion durchsträhnt sein kann.

Für diese Idee vom Gedicht brauchte Ashbery eine sprachliche Form, die beweglich genug ist, um das Fließen der Zeichen in sie einzulagern und zugleich den Sprüngen der Assoziation gerecht zu werden. Er fand sie im amerikanischen Langgedicht, in einer Figur der flutenden Zeile, wie sie sich von Walt Whitman über Ezra Pound und T.S. Eliot bis hin zu Wallace Stevens entwickelt hat. Hier ist nicht die klar begrenzte Zeile das Entscheidende, sondern der Sprung über die Versenden hinweg, der die Bedeutungen zum Schillern bringt. Immer weiter baute Ashbery diese Technik aus, "Flowchart" besteht aus mehr als 11000 solcher Zeilen und mündet im Bild einer Brücke, das doch alles andere ist als ein Ende: "Sie ist offen: die Brücke, soweit."

"Egal, ob da etwas ist oder nicht, das Gedicht wird das sein, was es für den Leser bedeutet."

Die Offenheit seiner Zeilen ließ Schreibende aus aller Welt an Ashberys Ideen andocken. Von Rae Armantrout oder Mary Jo Bang bis hin zu jüngeren Dichtern wie Ben Lerner, die US-amerikanische Gegenwartslyrik ist ohne den Einfluss John Ashberys gar nicht denkbar. Aber auch in Südamerika oder bei jüngeren Dichtern aus dem Osten Europas, um nur einige wenige Beispiele zu nennen, steht Ashbery hoch im Kurs. In Deutschland sind es Dichter wie Jürgen Becker oder Paulus Böhmer, die Ashberys Begeisterung für das Langgedicht teilen, neben der Lust an Beweglichkeit und Freiheit auch die damit verbundene Möglichkeit, verschiedene Zeit- und Erinnerungsschichten zu verknüpfen und den Prozess des Erinnerns selbst zu zeigen.

Was aber wäre John Ashbery ohne seine zahllosen Übersetzer gewesen? Keine schwierigere Aufgabe, als das fluide Spiel seiner Zeichen in eine andere Sprache zu holen. Vielleicht ist es kein Zufall, dass bei uns die leidenschaftlichsten Ashbery-Übersetzer selbst Dichter sind, Joachim Sartorius etwa, Erwin Einzinger, Matthias Göritz oder Jan Röhnert. Die Frage nach dem Verstehen seiner Gedichte hat er immer wieder gerne selbst beantwortet: "Gibt es da wirklich etwas zu verstehen? Ich denke, das ist eine Frage, die meine Gedichte immer stellen: Was ist da? Ist da überhaupt etwas? Und egal, ob da etwas ist oder nicht, das Gedicht wird das sein, was es für den Leser bedeutet." So kann man seine großartigen Gedichte auch als Free Jazz lesen und hören, bei dem die Götter auf ihren Instrumenten spielen. Am Sonntagmorgen ist John Ashbery, dieser Jam Man der Sprache, 90-jährig in seiner New Yorker Wohnung gestorben.

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