Smart City:Die Zukunft ist schon da, aber sie ist vor allem in Estland

Estonia Tallinn City

Sieht alt aus, ist aber sehr modern: Estlands Hauptstadt Tallinn.

(Foto: AFP)

Wo kein Politiker Papier benutzt und das Kindergeld bald von selbst fließen soll: Kein Staat ist so digital wie Estland, was auch Angela Merkel bewundert. Und falls jemand einmarschiert, liegt bald ein Back-up des ganzen Landes in Luxemburg.

Von Matthias Kolb, Tallinn

Anna Piperal gibt sich keine Mühe, ihren Enthusiasmus zu verbergen. "Viele Staaten behaupten, beim Regieren auf E-Governance zu setzen", sagt die 32-Jährige. Stolz ergänzt sie: "Wir Esten sind die Einzigen, die es wirklich tun." Piperal steht im Erdgeschoss eines gläsernen Bürogebäudes in Tallinn und präsentiert den Showroom von "E-Estonia". Der kleine Staat mit nur 1,3 Millionen Einwohnern setzt seit Jahren konsequent auf Digitalisierung, weshalb ständig Delegationen an die Ostsee pilgern - besonders jetzt, da Estland die EU-Ratspräsidentschaft innehat.

"Im Zentrum steht immer der Bürger", erklärt Piperal, die sich in ihrem Twitter-Profil als "e-believer" bezeichnet; dieser Fortschrittsglaube ist allgegenwärtig in Estland. Piperal präsentiert ihre digitale Bürgerkarte: "Das ist mein Personalausweis und mein Führerschein, die Versicherungskarte, der Ausweis für die Bücherei und die Treue-Karte im Supermarkt."

Jeder Este kann sich über www.eesti.ee einwählen, mit der digitalen Signatur Dokumente unterzeichnen und seine Steuererklärung fertig machen. "Das dauert drei Minuten, weil alles vorausgefüllt ist", schwärmt Marketing-Expertin Piperal. Das Steuersystem mit einer einheitlichen Flat-Tax von 20 Prozent hilft ebenso. Ein Unternehmen registrieren? Ist nach 18 Minuten erledigt. Mittlerweile sind Hunderte Dienstleistungen abrufbar; seit 2005 kann man online wählen. "Nur drei Dinge machen wir nicht im Netz: Heirat, Scheidung und den Kauf einer Immobilie", sagt Piperal. Jährlich werden so laut Eigenauskunft der Regierung mehr als 800 Jahre Arbeitszeit in der Verwaltung eingespart.

Wichtigste Info der sogenannten e-ID-Karte ist die individuelle Bürgernummer ("Isikukood"), die bei Piperal mit 48 507 beginnt. Vor allem mit deutschen Gästen spricht sie an dieser Stelle über Datenschutz: Die Nummer allein nützt niemandem, es braucht einen Code zur Identifizierung. Die Digitalisierung führe nicht nur zu weniger Korruption, sondern auch zu mehr Transparenz: "Ich kann sehen, welche staatliche Stelle auf mein Profil zugreift." Dies ist wichtig, da auf der Bürgerkarte auch Gesundheitsdaten gespeichert sind: "Wenn ein Arzt, der mich nicht behandelt, zu neugierig ist und die Daten abruft, wird er bestraft." 2016 geschah dies laut Datenschutzbehörde in sieben Fällen.

"2020 ist das Unterrichtsmaterial komplett digital"

Bereits heute sind 85 Prozent der Schulen ans Programm e-School angeschlossen. Online können Eltern Hausaufgaben und Noten ihrer Kinder einsehen - etwa im Pflichtfach Programmieren. "2020 ist das Unterrichtsmaterial komplett digital", freut sich Piperal. Die Technik-Euphorie wirkt: In der Pisa-Studie liegen Estlands Schüler in Naturwissenschaften auf Platz 1 in Europa. An der Wand des Showrooms erinnert ein Plakat daran, dass Skype mit schwedischem Geld hier entwickelt wurde - bis heute der Stolz des Landes. Ein Foto erinnert an die Visite von Angela Merkel: Die Kanzlerin nennt Estland stets als Vorbild der Digitalisierung.

Wie konsequent die Balten dabei vorgehen, zeigt sich auf dem Domberg. Während Touristen durch die mittelalterlichen Gassen der einstigen Hansestadt Reval laufen, wird im Stenbock-Haus an der Zukunft getüftelt. Marten Kaevats führt in den Kabinettssaal und sagt: "Dank e-Cabinet gibt es hier schon lange kein Papier mehr." Die Minister kommen mit Tablets; Vorlagen werden vorab eingereicht, und diskutiert wird nur, wenn einer Redebedarf anmeldet. "Das ist super-effizient", freut sich Kaevats. Er ist 32 und arbeitet als "Berater für Digitales" für Premierminister Jüri Ratas, der selbst erst 39 ist.

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Drei Kilometer vom Zentrum Tallinns entfernt, liegt das estnische Silicon Valley, genannt Ülemiste City. Viele IT-Firmen haben sich in diesem Viertel niedergelassen, in dem früher eine Geheimfabrik der Sowjetarmee lag.

(Foto: EST&OST/imago)

Seit der Unabhängigkeit 1991 haben vor allem junge Männer Estland regiert und sie setzten auf moderne Technik. 1996 wurden beim Programm "Tiigrihüpe" öffentliche Internet-Stationen eingerichtet und alle Schulen ans World Wide Web angeschlossen. Der "Tigersprung" war erfolgreich: Neben Skype siedelten sich andere IT-Firmen an, weil schon in der Sowjetzeit in Tallinn ein Institut für Kybernetik existierte. Daraus entstand die Firma Cybernetica, die 2001 die "X-Road" aufbaute: jenes dezentrale System, das den Austausch zwischen den verschiedenen Datenbanken regelt. Weil nirgends alle Informationen gespeichert sind, sei Datenklau nahezu unmöglich, sagt die Regierung. Ein internationales Forscherteam hat jedoch eine Schwachstelle entdeckt: Diese Woche machten sie eine Sicherheitslücke öffentlich, mit der sich die e-ID-Karte knacken lässt. In Tallinn tut man dies als "theoretische Möglichkeit" ab.

Autonome Minibusse fahren durch die Tallinner Altstadt

Als Estland 2005 erstmals via Internet wählen ließ, war Online-Banking hier weit verbreitet und in der Altstadt von Tallinn gab es überall Wlan. Heute ist das Land mit Glasfaseranschlüssen ausgerüstet. Manch ein Ausländer lästert zwar gern über "Laptopia" und unterstellt den Esten zu viel PR-Cyblabla - im Land selbst will niemand die Digitalisierung zurückdrehen, weil alles problemlos läuft. "In der öffentlichen Verwaltung ist Estland weltweiter Vorreiter", sagt Robert Krimmer, Professor für E-Governance in Tallinn. Er lobt, dass hier "das digitale Konzept ganzheitlich angewandt" werde. Für föderale Staaten wie Deutschland oder seine Heimat Österreich gelte: "Man kann davon lernen, aber nicht einfach alles kopieren. Vieles funktioniert, weil das Land so klein ist und sich alle Akteure kennen."

Marten Kaevats treibt die Modernisierung weiter voran: "Ich sehe uns als Labor, als pathfinder country." Der studierte Architekt mit den blond-zerstrubbelten Haaren will vor allem den Einsatz selbstfahrender Autos fördern und so die Städte lebenswerter machen. Im März 2017 machte das Parlament Estlands Straßen zum Testgelände, und nun fahren autonome Minibusse probeweise im Schritttempo am Rande der Tallinner Altstadt entlang.

Im Januar werde die "Data Embassy" in Luxemburg eröffnen, als Back-up für alle Daten des Staates. "Wir könnten ohne jegliches Territorium existieren", sagt Kaevats stolz. Für eine Gesellschaft, deren Land fünf Jahrzehnte besetzt war, ist die virtuelle Botschaft ein wichtiger Aspekt. "Unsichtbare Dienstleistungen" sollen bald den Alltag erleichtern. "Wird ein Baby geboren, soll sofort Kindergeld überwiesen werden. Es ist doch sinnlos, dafür einen Antrag zu verlangen", sagt der Vater von drei Kindern. Die Regierung tut alles, um mit der Ratspräsidentschaft Werbung für den Standort Estland zu machen, und beim EU-Digital-Gipfel am 29. September will Premier Ratas für einen digitalen Binnenmarkt werben.

"Wir brauchen ein anerkennendes Schulterklopfen"

Während er sich im Innenhof des Regierungssitzes eine Zigarette dreht, philosophiert Kaevats über die Bedeutung des internationalen Interesses an E-Estonia: "Wir brauchen ein anerkennendes Schulterklopfen, um zu merken, was wir erreicht haben. Viele denken, dass es überall so abläuft."

Ähnliches berichtet auch Erki Saluveer. Als er vor zehn Jahren auf eine internationale Konferenz fuhr, erlebte er Überraschungen. "Da wurde eine israelische Firma für ein Programm ausgezeichnet, mit dem Parktickets per SMS bezahlt werden. Das gibt es in Estland seit 2000", erinnert sich Saluveer. Der 37-Jährige ist Chef des Start-ups Positium, das anonymisierte Mobilfunkdaten kauft und diese auswertet. So können Kommunen etwa den Bedarf für neue Buslinien ermitteln, und Firmen erhalten Analysen, welche Standorte für neue Läden besonders geeignet wären.

Saluveer lebt in der Uni-Stadt Tartu und hat Positium mit dem Geografie-Professor Rein Ahas gegründet. Für die Zentralbank ermitteln sie, wie viele Ausländer nach Estland kommen. "Früher haben Leute mit Klemmbrett Touristen befragt. Wir sehen dank der Handy-Daten, woher die Touristen kommen. Deren durchschnittliche Kaufkraft wissen wir von den Kreditkartenfirmen", sagt Saluveer. Zudem werden auch jene Reisenden erfasst, die nicht in Hotels übernachten. Die Tourismusbranche trägt sieben Prozent zur estnischen Wirtschaftsleistung bei, und die Tüftler von Positium hoffen, dass ihre Dienstleistungen international vermarktbar sind.

Auch Ain Aaviksoo möchte, dass der Rest Europas von Estlands Erfahrungen profitiert. Er ist im Sozialministerium für den Bereich E-Health zuständig. "Wir haben etwa gemerkt, dass ältere Esten kaum Generika kaufen. In einer Aufklärungskampagne haben wir betont, dass diese genauso wirksam sind wie Marken-Medikamente", sagt er. Die vorhandenen Daten sollen genutzt werden, um bei der Medizin stärker auf Prävention und Personalisierung zu setzen. Aaviksoo schwärmt auch von den elektronischen Arztrezepten: Kein Este reiche in der Apotheke ein Stück Papier über den Tresen. "Wäre es nicht toll, wenn jeder EU-Bürger überall seine Medikamente erhalten würde?", fragt der 43-Jährige.

Aaviksoos Optimismus entstammt seiner Vita. Der Mediziner gründete 1999 Estlands erstes Web-Portal für Gesundheitsthemen und arbeitete für einen Thinktank. Wenn mehr EU-Staaten medizinische Daten sammeln würden, könnten Wissenschaftler diese - natürlich anonymisiert - für Forschungszwecke nutzen, argumentiert Aaviksoo. "Die EU muss sich doch zusammentun, um gegen China und die USA bestehen zu können", sagt er.

Auch im Showroom spricht die Digital-Enthusiastin Anna Piperal über globale Ambitionen. Mit der "E-Residency" können Nicht-Esten eine virtuelle Staatsbürgerschaft beantragen und damit alle Dienstleistungen nutzen. Wichtigste Zielgruppe sind "digitale Nomaden", also Freiberufler, die überall arbeiten und ihr Unternehmen registrieren können. Weltweit gibt es mehr als 21 000 E-Residents. Gern wird darauf verwiesen, dass darunter auch Japans Premier Shinzo Abe und Bundeskanzlerin Merkel sind, die ihre Chipkarten als Geschenk erhalten haben. In Sachen PR ist E-Estonia eben ziemlich weit vorn.

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