Prozess:Wenn Kinder wegen Vernachlässigung sterben

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Vernachlässigung ist die häufigste Ursache von Kindeswohlgefährdung. Die Folgen können fatal sein.

(Foto: MOs810 via Wikimedia Commons)
  • In Arnsberg steht eine neunfache Mutter vor Gericht, weil sie ihren zweijährigen Sohn verhungern ließ.
  • Ein Psychologe sagt: Vernachlässigung von Kindern ist die häufigste Ursache der Kindeswohlgefährdung.

Von Kerstin Lottritz

Als Anakin im Februar vor drei Jahren von seiner Mutter in ein Krankenhaus im nordhrein-westfälischen Winterberg gebracht wird, wiegt er kaum mehr als sechs Kilo. Der zweijährige ist abgemagert bis auf die Knochen, die Ärzte sind schockiert. Kinder in seinem Alter bringen normalerweise um die 15 Kilo Waage. Anakins Mutter, die insgesamt neun Kinder hat und sie alleine erzieht, macht für den Gewichtsverlust ihres Kindes einen heftigen Magen-Darm-Virus verantwortlich. Der grassiere gerade in der Familie. Deshalb bringt sie ihren Sohn und dessen neun Monate alte Schwester ins Krankenhaus. Doch während die Ärzte das Baby retten können, kommt für Anakin jede Hilfe zu spät. Einen Tag später stirbt er an den Folgen schwerer Unterernährung.

Auch wenn dieser Fall sehr extrem ist - dass Kinder vernachlässigt werden sei gar nicht so selten, sagt Heinz Kindler, Diplom-Psychologe am Deutschen Jugendinstitut in München. "Etwa zwei Drittel der Fälle, bei denen das Kindswohl gefährdet ist, haben Vernachlässigung als Ursache." Damit sei diese Gefährdungsform von Kindern wesentlich häufiger als körperliche Gewalt und sexueller Missbrauch. Dem Statistischen Bundesamt zufolge sind im vergangenen Jahr 21 700 Kinder unter 14 Jahren von den Jugendämtern in Obhut genommen worden - am häufigsten weil die Eltern überfordert waren und weil die Kinder vor Vernachlässigung geschützt werden sollten. Die Folgen können sonst fatal sein. "Es ist nichts Alltägliches, wenn ein Kind zu Schaden kommt", sagt Kindler.

Anakin bezahlt die jahrelange Vernachlässigung mit seinem Leben. Seine Mutter muss sich jetzt, drei Jahre später, vor dem Landgericht in Arnsberg wegen vorsätzlicher Körperverletzung mit Todesfolge verantworten. In einem ersten Prozess am Amtsgericht Medebach ging es noch nur um fahrlässige Tötung und fahrlässige Körperverletzung. Damals hatte der Staatsanwalt vor Prozessbeginn der Mutter aber keinen Vorsatz unterstellt. Die neunfache Mutter sei überfordert gewesen, da seien die kleinen Kinder offenbar nicht genügend beachtet worden.

Nach der Beweisaufnahme ist sich der Richter aber sicher: Der Zustand des Kindes muss erkennbar gewesen sein. Die Mutter habe den Tod zwar nicht gewollt, aber billigend in Kauf genommen. Deshalb wird der Fall ans Landgericht Arnsberg verwiesen und nun neu verhandelt.

Ambulante Hilfen können eine gute Entwicklung des Kindes ermöglichen

"Überforderung allein erklärt nicht, warum ein Kind so schwer vernachlässigt wird, dass es Schaden nimmt", sagt Psychologe Kindler. In der Regel würden mehrere Faktoren zusammen kommen, wie etwa psychische Probleme, intellektuelle Beeinträchtigungen oder fehlendes Mitgefühl. "Diesen Eltern fällt es schwer, Hilfe zu suchen." Oftmals seien es Nachbarn oder Institutionen wie Kindergarten oder Kinderarzt, die die Jugendämter über die Situation in der Familie informieren. Die Behörde koordiniert dann konkrete Hilfen. Vor allem im internationalen Vergleich gebe es in Deutschland sehr viele niedrigschwellige Angebote, die in vielen Fällen die Situation abwenden können. "In der Mehrzahl dieser Familien kann über ambulante Hilfen eine gute Entwicklung des Kindes ermöglicht werden."

Im Fall des zweijährigen Anakins hat das System aber versagt. Etwa ein halbes Jahr vor dem Tod ihres Sohnes zieht die Mutter von Sachsen nach Winterberg im Sauerland, weil sie sich von ihrem gewalttätigen Ehemann getrennt hat. Zuvor hat das Jugendamt im Vogtland die Familie bereits betreut. Die Behörde informiert die Kollegen im Hochsauerland schriftlich über die Situation. In dem Brief ist die Rede von Kindeswohlgefährdung und Unterernährung.

Doch am neuen Wohnort kann eine Familienhebamme keine Unterernährung feststellen. Danach gibt es auch keine regelmäßigen Kontrollen mehr durch das Jugendamt. Was aber auch daran liegt, dass die Mutter sich abschottete, den Kontakt verweigerte. Als es der jungen Jugendamtsmitarbeiterin doch noch gelingt, die Familie in ihrer Wohnung zu besuchen, schaut sie nicht genau hin, interessiert sich nur, ob die älteren Kinder in die Schule gehen. In einem Prozess wird die Sozialarbeiterin deshalb wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung zu sechs Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Das Gericht gibt ihr eine Mitschuld an dem Tod des Kindes. Staatsanwaltschaft und Verteidigung haben Berufung eingelegt. Auch dieser Fall wird in Arnsberg neu verhandelt.

Psychologe Heinz Kindler hält gute Präventionsarbeit für wichtig. Schon um die Geburt eines Kindes herum könne man gewisse Risiken für eine mögliche Vernachlässigung erkennen. Konkret heißt das, psychische Probleme, selbst erlebte Misshandlungen, aber auch Armut würden die Wahrscheinlichkeit für Vernachlässigung erhöhen. "So weit muss es aber nicht immer kommen", sagt Kindler. Aber wenn man diesen Eltern schon frühzeitig Angebote machen würde, könne man etwa ein Drittel der Vernachlässigungsfälle verhindern.

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