Zum Tode von Heiner Geißler:Der General, der seiner Zeit voraus war

Heiner Geißler ist tot. Der einst kongeniale und später geschasste Partner von Helmut Kohl wandelte sich vom christdemokratischen Hardliner zum linksliberalen Christen.

Nachruf von Lars Langenau

"Jesus hatte auch ständig Streit. Darin war er immer ein Ideal für mich: unabhängig, freimütig, selbstbewusst und furchtlos. Jesus war eine ideale Type. Wer sich im Leben an Jesus orientiert, liegt absolut richtig." Was Heiner Geißler da in einem seiner letzten Interviews sagte, war charakteristisch für den Mann, der als Vor- und Querdenker seiner Partei galt - und der von seinen Gegnern wegen seines Hangs zur Polemik und Demagogie gefürchtet wurde.

Man dürfe sich eben "geistig nicht einsperren lassen". Er selbst habe sich "in der Politik immer als Grenzgänger empfunden". Und das, was er im Gespräch mit einer jungen Redakteurin weiter sagte, klingt höchst aktuell: "Ich war immer gegen Nationalismus und rechtsradikale Gesinnung. Meine erste Loyalität galt immer der Bevölkerung, also auch den Ausländern. Dank den Grundsätzen, mit denen ich angetreten war: Menschenrechte, Solidarität gegenüber Schwächeren. Erst danach kam die Loyalität zu Personen."

Loyalität war allerdings gerade das, was sein ehemaliger Chef Helmut Kohl am stärksten von seinen Gefolgsleuten forderte. Etwas, das ihm Geißler 1989 nicht mehr geben konnte. Seit 1977 war er Generalsekretär der CDU, managte drei Wahlkämpfe für Kohl und wagte dennoch den Putsch. Er verlor den Machtkampf, wurde durch Volker Rühe ersetzt - und Kohl wandelte sich mit der deutschen Wiedervereinigung vom belächelten Provinzpolitiker zum Staatsmann.

Kohl hielt ihn für einen Verräter, trotzdem erwies ihm Geißler die letzte Ehre

Zu Kohls Totenmesse am 1. Juli schritt Geißler neben seinem ehemaligen Kabinettskollegen Norbert Blüm in den Dom zu Speyer: Sein zerfurchtes Gesicht ragte aus einem etwas knittrigen, dunklen Anzug und einem dunkelblauen Rollkragenpulli. Heiner Geißler entzog sich dem Krawattenzwang. Er war eben schon immer etwas anders. Mit Kohl hatte er sich nach den Ereignissen auf dem Bremer Parteitag 1989 unversöhnlich zerstritten. Kohl hielt ihn fortan für einen Verräter. Trotzdem erwies Geißler ihm die letzte Ehre. Auch das zeugte von Geißlers Größe. Kohl und Geißler waren beide Jahrgang 1930. Wenige Monate nach dem Tod seines langjährigen Chefs folgt er ihm nun selbst.

Wohl auf niemand anderen hatte die Abkürzung "General" für Generalsekretär so gut gepasst wie auf diesen drahtigen, blonden, später hageren, grauen, aber immer scharfzüngigen Schwaben, der sich Hitlers letztem Aufgebot als 15-Jähriger durch Desertion entzog. Der ehemalige Novize im Jesuitenorden und kurzzeitige Richter war ein General mit einem Eigengewicht, das keiner seiner Nachfolger mehr hatte.

Kohl hatte ihn 1967 als Sozialminister nach Mainz geholt, 1977 wurde er CDU-Generalsekretär und blieb das auch in seiner Doppelfunktion zwischen 1982 bis 1985 als Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit. Mit dem Pfälzer bildete er ein Vierteljahrhundert ein kongeniales Team.

Nicht nur für den Spiegel war er jahrelang "Kohls Kettenhund", und manch einer dürfte sich die Augen gerieben haben, welche Wandlung Geißler im letzten Jahrzehnt hingelegt hat. Gleich nach dem Antritt als General hatte er eine Broschüre zu verantworten, in der Linke und Liberale wie Helmut Gollwitzer, Heinrich Albertz oder Herbert Marcuse als "Sympathisanten des Terrors" bezeichnet wurden. 1983 etwa, im Bundestag, behauptete Geißler, "ohne den Pazifismus der 1930er Jahre wäre Auschwitz überhaupt nicht möglich gewesen".

Als Willy Brandt die Fassung verlor

Geißler redete Kohls Falschaussage in der Flick-Affäre als "Blackout" klein, übte üble Kritik an der Verleihung des Friedensnobelpreises an die Organisation "Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs IPPNW" und bezeichnete die SPD im Streit um die Nachrüstung als "fünfte Kolonne der anderen Seite". Besonders SPD-Chef Willy Brandt brachte er 1985 so sehr auf die Palme, dass der Ex-Kanzler die Fassung verlor: "Ein Hetzer ist er, seit Goebbels der schlimmste Hetzer in diesem Land."

Geißlers verbale Attacken gegen die SPD und die Grünen verdeckten, dass er im Grunde seines Herzens selbst ein Liberaler war und privat als umgänglich und verschmitzt galt. Immer stärker wurde er als Unruhestifter in seiner Partei wahrgenommen und warb bereits 1987 innerhalb der CDU für einen neuen "Kurs der Mitte" ohne Ausgrenzung von Randgruppen. Früh präsentierte er seine Vorstellungen von einer "multikulturellen Gesellschaft", die bis heute Konservative erregen. Nach seiner Entmachtung blieb er unbequem.

1990 empfahl der dreifache Vater den Deutschen, sich auf das Zusammenleben mit Millionen Menschen anderer Herkunft, Kultur und Muttersprache einzustellen. Er wandte sich gegen neoliberale Auswüchse, forderte schärfere Gesetze gegen rechtsextremistische Gewalttäter, provozierte mit Thesen zur Asylpolitik und seinem Plädoyer für die Anerkennung Deutschlands als Einwanderungsland. Manchmal war er seiner Zeit einfach weit voraus.

Ende 1992 stürzte er mit einem Gleitschirm ab und erlitt lebensbedrohliche Verletzungen. Doch noch vom Krankenbett aus sprach er sich gegen die rigorose Sparpolitik der Regierung Kohl aus - und bezog gegen Steffen Heitmann, Kohls Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten, Position.

Er geißelte Gier, Geiz und Geld

Nachdem Kohl die Wahl 1998 gegen Gerhard Schröder verloren hatte, blieb Geißler "einer der letzten munteren Individualisten" im Bundestag, wie die Stuttgarter Zeitung schrieb. Als erster prominenter Christdemokrat bestätigte er dann die Existenz von "schwarzen Konten" in der CDU unter Kohl. Unverständlich blieb ihm die Ablehnung der CDU/CSU gegenüber rot-grünen Gesetzesinitiativen zur doppelten Staatsbürgerschaft, der Zuwanderung sowie zum Begriff der "Leitkultur".

Nach der Bundestagswahl 2002 kehrte er, mit 72, nicht mehr in den Bundestag zurück, sondern warb in Büchern und Talkshows für seine Positionen. Immer heftiger geißelte er - auch aus christlicher Überzeugung - Gier, Geiz, Geld und eine "anarchische Wirtschaftsordnung, die über Leichen geht". 2007 trat er Attac bei - "ein Fall von Altersradikalität, der nachdenklich macht", schrieb der Tages-Anzeiger. Mehrfach war er als Schlichter in diversen Tarifrunden tätig - auch im Konflikt um das heiß umstrittene Projekt Stuttgart 21, den er befrieden konnte.

Geißler war ein intellektuell herausragender Politiker, der sich im Laufe der Jahre zum linksliberalen Christen wandelte - und sich selbst doch treu blieb. "Auch mit 87 Jahren kann ich mich noch öffentlich aufregen und dazu beitragen, den Unsinn in der Welt abzubauen", sagte er dem Spiegel. Streitbar war er und bis zuletzt voller Pläne. Noch im hohen Alter wanderte er viel und kletterte Berge hoch. Jetzt ist Heiner Geißler nach kurzer schwerer Krankheit im Alter von 87 Jahren verstorben.

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