Psychologie:Stress auf der Insel

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Wenn Affen oder Menschen sich kratzen, kann das ein Zeichen für Stress sein. Für alle anderen ist dann höchste Vorsicht geboten. Wenn sie hingegen Zeichen der Wertschätzung empfangen, juckt es sie seltener - eine Lektion für den Menschen?

Von Tina Baier

Wenn sich ein Kollege mitten im Gespräch plötzlich am Kopf kratzt, heißt das nicht unbedingt, dass er einen Mückenstich oder gar Läuse hat. Es muss auch nicht bedeuten, dass er gerade scharf nachdenkt. Möglicherweise signalisiert er aber unbewusst, dass er unter Druck steht. "Primaten kratzen sich, wenn sie gestresst sind", schreibt Jamie Whitehouse, Psychologe an der englischen University of Portsmouth in der Fachzeitschrift Scientific Reports.

Schimpansen, die von anderen getröstet werden, kratzen sich seltener

Whitehouse hat bei einer Gruppe Makaken auf Cayo Santiago - einer Insel, die zu Puerto Rico gehört - beobachtet, dass sich die Affen vor allem dann auffällig oft kratzten, wenn ein ranghöheres Tier in ihre Nähe kam. Die gängige Erklärung dafür ist, dass es sich um eine Übersprungshandlung handelt, also eine Verhaltensweise, die in dieser Situation eigentlich unpassend ist: Der Affe kratzt sich, weil er hin- und hergerissen ist zwischen zwei Handlungsoptionen - etwa Angriff und Flucht - und sich für keine von beiden entscheiden kann.

Nach Ansicht des englischen Wissenschaftlers gibt es aber noch eine andere Erklärung für das seltsame Verhalten. Er vermutet, dass das Gekratze für alle Artgenossen sichtbar macht, wenn ein Tier unter Stress steht. "Das kann dabei helfen, einen Konflikt zu vermeiden", sagt er. Tatsächlich ergab die Auswertungen seiner Beobachtungen, dass Affen, die sich in Anwesenheit eines ranghöheren Tiers kratzten, von diesem nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent angegriffen wurden. Normalerweise lag die Wahrscheinlichkeit bei 75 Prozent. "Die Affen vermeiden es wahrscheinlich, offensichtlich gestresste Artgenossen anzugreifen, weil diese oft unberechenbar reagieren", sagt Whitehouse. In diesem Fall ist ein Kampf nämlich extrem riskant. Vielleicht sei es aber auch ein Zeichen für Schwäche. Dann wäre ein Angriff überflüssig.

Verhaltensweisen, die anderen signalisieren, dass es einem Mitglied der Gruppe nicht gut geht, etwa weil es unter Stress steht, könnten möglicherweise auch dazu beigetragen haben, dass sich beim Menschen, aber auch bei manchen Tierarten die Fähigkeit zur Empathie entwickelt hat. Eine Voraussetzung dafür ist schließlich, überhaupt zu registrieren, wie es einem anderen Lebewesen geht. Speziell Primaten, aber auch andere Arten sind dafür bekannt, dass sich nach einer Auseinandersetzung, dritte, am Kampf unbeteiligte Tiere, um den Verlierer kümmern und ihn trösten: Saatkrähen beispielsweise reiben ihren Schnabel an dem des Verlierers, es sieht fast aus als würden sie ihn küssen. Wölfe legen sich dicht neben den Unglücklichen und fordern ihn zum Spielen auf. Und Schimpansen trösten sich gegenseitig, indem sie sich umarmen und lausen. Tatsächlich zeigt eine ältere Studie an Zoo-Schimpansen, dass sich Affen, die getröstet werden, seltener kratzen.

© SZ vom 12.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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