Bundestagswahl:Warum es falsch ist, taktisch zu wählen

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Bei der Bundestagswahl gibt es diesmal mehr Auswahl - aber damit auch mehr Unsicherheit, wer am Ende eigentlich die Regierung stellen wird.

(Foto: Getty Images)

Sozialdemokraten, die FDP wählen? Schwarz-Grün-Fans, die sich für die Linken-Kandidatin entscheiden? Oder gleich Protestwahl? Wahlbürger sollten besser langfristigen Überzeugungen vertrauen als momentanen Kalkülen.

Kommentar von Gustav Seibt

In den sozialen Selbstdarstellungsmedien kursieren derzeit allerlei Bekenntnisse, warum man das eine wähle, um etwas anderes zu erreichen. Da sagen angebliche Sozialdemokraten, dass sie FDP wählen, weil sie eine weitere große Koalition für die SPD verheerend fänden: dann lieber Schwarz-Gelb mit einer ehrlichen linken Opposition. Aber es gibt auch Schwarz-Grün-Anhänger, die in Berlin-Kreuzberg wohnen und auf keinen Fall für die dortige grüne Direktkandidatin stimmen wollen, weil diese zu links für ein Bündnis mit der Union sei; folglich müsse man hier den in den Umfragen zweitplatzierten, nicht weniger linken Kandidaten der Linkspartei wählen, um das grüne Direktmandat zu verhindern, weil man ja Schwarz-Grün wolle.

Diese Billard-Logik kann also beliebige Volten schlagen. Sie ist Ausdruck der geschwundenen Milieubindung der Parteien, aber auch Folge des komplexer werdenden Parteiensystems. In der kommenden Legislaturperiode erscheinen mindestens vier Koalitionenmöglichkeiten denkbar, neben Schwarz-Gelb und Schwarz-Grün noch Jamaika (Liberale, Grüne und Union) und natürlich die große Koalition.

Es ist ungewisser als je zuvor, was genau man bekommt

Für taktisch weniger ambitionierte Wähler aber heißt das: Es ist ungewisser als je zuvor, was genau man bekommt, wenn man seinen Stimmzettel ausfüllt, selbst wenn die meisten glauben, dass es wieder auf Angela Merkel hinausläuft. Die Zeiten eines gusseisernen Parteiensystems mit zwei alternativen Lagern, in dem eine taktische Stimme für die FDP oder die Grünen eine berechenbare Option war, sind längst vorbei. Diesmal hat man eine größere Auswahl, aber auch mehr Unsicherheit.

Hinter solchen Erwägungen bildet sich ein Ohnmachtsgefühl, das viele Wähler am Wert ihrer Stimmen zweifeln lässt. Und natürlich trifft es zu, dass bei 61,5 Millionen Wahlberechtigten das Gewicht des einzelnen Wählers auch dann minimal erscheint, wenn ein Viertel davon zu Hause bleibt. Die Parteien, die "Eliten" (oder wie man die da oben nennt) täten sowieso, was sie wollen, lautet eine resignierte Feststellung.

Daraus kann man nun unterschiedliche Schlüsse ziehen. Viele bleiben der Wahl ganz fern und bekunden damit, dass sie das Plebiszit über die Verfassung, das jede Wahl eben auch ist, verweigern. Denn wer wählt, bestätigt immerhin eine wichtige Legitimationsquelle des demokratischen Staats. Wählen sei, so hieß es früher einmal feierlich, eine "Amtshandlung", bei der man das Amt des Staatsbürgers ausübe. Daher ist das Nichtwählen, sei es aus Gleichgültigkeit oder aus Überdruss, doch eine Wahl: Es bekundet Ablehnung. Von da ist es nicht weit zur Protestwahl, einer eher grobschlächtigen Variante der taktischen Wahl. Man stimmt für unerprobte bis unprofessionelle Außenseiter, oft ohne ihre krawallig proklamierten Ziele zu teilen, um das System aufzumischen und der "Stimme des Volkes" Gehör zu verschaffen.

Der Erfolg der AfD beruht nicht allein auf solchen Motiven, doch sie dürften eine erhebliche Rolle spielen. Protestparteien und Wahlenthaltung sind in allen Demokratien Folge von blockierten Möglichkeiten eines klaren Wechsels: immer mehr Parteien, aber keine Alternative. Wenn die eigene Stimme unerheblich erscheint, dann entscheidet mancher sich eben für das lauteste Angebot.

Wahlprogramme sind Verhandlungspapiere, keine Warenkataloge

Hinter solcher Unruhe steckt aber womöglich noch mehr. Das Verständnis für die professionellen und prozeduralen Voraussetzungen von Politik, für ihren Kompromisscharakter, für externe Zwänge und interne Interessenkonflikte hat unter dem Dauergerede über "Volk" und "Eliten" gelitten. Befördert von den scheinhaften Unmittelbarkeitserfahrungen im Netz hat eine Bestellermentalität um sich gegriffen, die von "der Politik" verlangt, dass sie liefern solle. Dass ein moderner Verfassungsstaat aus guten Gründen Zwischeninstanzen, Parteien und Berufspolitiker braucht, muss vielleicht neu erklärt werden.

Denn das Volk der Demokratie gibt es nicht als Willensgemeinschaft, sondern nur als Rechtsgemeinschaft derer, die sich als gleichberechtigte Staatsbürger anerkennen. Danach beginnt der Streit um Positionen, Interessen und Überzeugungen. Dieser Streit muss im Wesentlichen delegiert werden, bei aller Liebe zur direkten Demokratie. Wer taktisch wählt, versucht eigentlich, das System zu überlisten, das auf Stellvertretung und Verhandlung ausgelegt ist. Kein Wunder, dass das nicht funktioniert.

Der Wahlomat ist so mechanisch wie sein Name

Nun gibt es den beliebten Wahlomaten, die Abfrage einzelner Punkte aus den Parteiprogrammen, samt separater Gewichtungsfunktion. Gesetzliche Krankenkasse für alle versus Auslandseinsätze der Bundeswehr oder historische Gedenkkultur: Die Kombinationsmöglichkeiten sind vielfältig, und am Ende kommt ein Rechenergebnis, das manche verblüfft. Allerdings ist der Wahlomat so mechanisch wie sein Name. Er ist ein Ausdruck derselben Lieferservice-Mentalität, die "Volk" gegen "Politik" stellt: Man wirft oben ein paar Münzen hinein und bekommt unten dann sein Resultat. Wehe, es stimmt nicht.

Trotzdem bleibt es sinnvoll, Wahlprogramme zu lesen, aber am besten im Zusammenhang und ohne dabei zu vergessen, dass es sich um Kompromiss- und Verhandlungspapiere handelt. Parteiintern sind Programme für die Mitglieder da, die ihre Parteiführungen zähmen möchten. Nach außen signalisieren sie möglichen Koalitionspartnern die Bedingungen. Wunschlisten oder Warenkataloge sind sie eher nicht. Gelegentlich findet man dort, was man auf keinen Fall will, und auch das ist informativ.

Was wählt man dann eigentlich bei so viel Indirektheit? Schlicht gesagt: Organisationen mit Grundhaltungen und einem Personal, das man sinnvollerweise schon länger beobachtet. Diese Beobachtung ist ebenso wichtig wie einzelne Programmpunkte oder taktische Erwägungen. Denn bei jeder Wahl stimmt man auch für eine bestimmte Form des Bürgerseins, für eine Farbe, die man im Parlament sehen möchte. Dabei sollten die Wahlbürger besser langfristigen Überzeugungen als momentanen Kalkülen vertrauen. Eine interessante Testfrage ist dabei: Wollen wir so leben, wie die miteinander umgehen?

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