Deutsche Einheit:Wostdeutschland

Wiedervereinigung, Tag der deutschen Einheit

Rund eine Million Menschen feierten in der Nacht des 3. Oktober 1990 in Berlin die wiedergewonnene deutsche Einheit (Archivbild).

(Foto: picture alliance / dpa)
  • Der Erfolg der AfD bei der Bundestagswahl wird vielfach Ostdeutschland angelastet.
  • Doch die sozialen Themen - Integration, Chancengleichheit, prekäre Lebensbedingungen - betreffen längst die ganze Bundesrepublik.
  • Unterschiede zwischen Ost und West haben historische Ursachen, aber sind nicht mehr struktureller Natur.

Von Jens Bisky

Die Integration Ostdeutschlands sei wohl gescheitert, hieß es noch am Wahlabend. Eine Ost-West-Debatte ist wieder aufgeflammt, die bislang überwiegend dazu diente, Ratlosigkeit zu kompensieren. Wer es sich nicht zu einfach machen will, sollte zur Kenntnis nehmen, dass die AfD bundesweit Erfolg hatte und dass es ihr offenbar gelungen ist, in sehr verschiedenen Milieus attraktiv zu erscheinen. Das hat viele Gründe, so wie auch ihre besondere Stärke in Ostdeutschland nicht überall die gleichen Ursachen haben dürfte. In den fünf längst nicht mehr so neuen Ländern sind seit dem Vereinigungsschock der frühen Neunzigerjahre sehr heterogene Lebenswelten entstanden: Die urbanen Zentren wie Potsdam, Dresden, Leipzig oder Jena unterscheiden sich deutlich von den vielen Kleinstädten und mehr noch von ländlichen Regionen. Einige werden von gestressten Städtern als Rückzugsorte genutzt, andere wirken entleert, verlassen, im Wortsinne abgehängt.

Komfortables Elend in den neuen Bundesländern

Es gibt solche Regionen auch im Westen. Die Unterschiede, die Probleme in armen Regionen mit schwacher Wirtschaft sind 27 Jahre nach der Vereinigung überhaupt kleiner als oft geglaubt. Allerdings unterscheiden sich Ost und West aufgrund der rund fünfzig Jahre unterschiedlicher historischer Erfahrung: mit verschiedenen Befreiern und Besatzungsmächten, in zwei einander feindlichen Gesellschaftssystemen und den sehr verschieden erlebten Jahren der Vereinigungskrise. Während manche im Westen in den neuen Mitbürgern vor allem Kostgänger und Fortschrittshemmnisse sehen wollten, erlebten die Ostdeutschen, nach der Selbstbefreiung 1989, wie einer Gesellschaft der Boden unter den Füßen weggezogen wurde, sie wurden Zeugen einer beispiellos raschen Deindustrialisierung. Die Geburtenrate sank, bis nur noch im Vatikan weniger Kinder zur Welt kamen, Arbeitslosigkeit und Abwanderung wurden Massenschicksal. Zugleich aber, dies war die paradoxe Erfahrung der Neunzigerjahre, gab es überall im Osten eine Wohlstandsexplosion. In keinem anderen Land des ehemaligen Ostblocks war der Übergang in die Marktwirtschaft so abgesichert durch Transferzahlungen, Aufbauhilfen und einen ausgebauten Sozialstaat. Es war ein komfortables Elend.

Daher wird in der deutsch-deutschen Debatte einerseits Anerkennung und andererseits Dankbarkeit gefordert. Aber das sind Phrasen, aus denen wenig folgt. In Sonn- und Festtagsreden ist die besondere Leistung der Ostdeutschen mehrfach gewürdigt worden, aber das vermag, so pauschal ausgesprochen, den Durst nach Anerkennung der eigenen Biografie nicht zu stillen. Dieser allgemein menschliche Wunsch ist politisch nicht befriedigend zu erfüllen. Oder soll ein Bundesamt für die Würdigung von Lebensleistungen Anerkennungsscheine ausstellen?

Es ist Zeit, die Schreckstarre zu überwinden

Präsent sind diese Erfahrungen in Büchern, in Filmen, auf der Bühne. Vor Kurzem erschien Ingo Schulzes großer Schelmenroman "Peter Holtz. Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst". Schulze spannt den Bogen von der Honecker-DDR bis in die späten Neunzigerjahre und erzählt aus der Perspektive eines ganz und gar Naiven vom Umbruch, vom Traum einer christlich-kommunistischen Demokratie und von Geldvernichtung in der Marktwirtschaft.

Dankbarkeit einzufordern ist selten ein feiner Charakterzug. Diese von den Ostdeutschen zu verlangen, verkennt die Lage. Sie waren, auch wenn das bei Helmut Kohl oft anders klang, nicht Objekte eines staatlichen Beglückungsprogramms, sondern Akteure der Vereinigung, verantwortliche Subjekte. Die Einheit des Landes und gleichwertige Lebensverhältnisse herzustellen war ein Grundgesetzauftrag. Und Wahlentscheidungen sollten doch unter Demokraten nicht als Danksagung verstanden werden.

Dass freilich die Treuhand miserabel wirtschaftete, dass die Mittel für den Aufbau Ost oft falsch eingesetzt wurden, dass die Wirtschaftskraft im Osten bei etwa 70 Prozent des westdeutschen Niveaus stagniert, dass im Osten deutlich weniger verdient wird, der Mindestlohn eine größere Rolle spielt, dass etwa 40 Prozent der Haushalte mehr als die Hälfte ihre Einkünfte aus Transferzahlungen beziehen - darüber wäre zu reden. Der Hinweis auf ähnliche Verhältnisse im Westen relativiert das Problem nicht, sondern zeigt, dass es ein gesamtdeutsches ist.

Im Osten ist die Lage besser als vor zwanzig Jahren

Waren die Stimmen für die AfD ein Protest gegen den Neoliberalismus? Ausdruck der Verzweiflung angesichts der wirtschaftlichen Lage? Es mögen solche Motive eine Rolle gespielt haben, wobei man sich dann doch wundern muss, dass dieser Protest sich ausgerechnet jetzt so vehement äußert. Auch im Osten ist die wirtschaftliche Lage besser als vor zwanzig oder vor zehn Jahren.

Wenigstens so wichtig wie die ökonomischen Verhältnisse sind Fragen der politischen Kultur. In der DDR boten Familie und Freundeskreis einen privaten Schutzraum, in den Neunzigerjahren, als die Mehrheit ihr Leben auf neue Gleise setzte, boten sie Halt. Dass die öffentliche Sphäre im Osten schwächer entwickelt sei als im Westen, die Parteibindungen geringer seien, ist oft gesagt wurden. Aber ist das im Westen wirklich grundsätzlich anders? Die Unterschiede scheinen in diesem Fall doch nur noch graduelle, keine substanziellen mehr zu sein. Auch sollte man nicht übersehen, dass es überall starke Gegenkräfte gibt, dass etwa Pegida-begleitend über Monate auch die Demonstration "Dresden für alle" organisiert wurde.

Nach einer Woche des verständlichen Entsetzens über das Wahlergebnis der AfD ist es nun wohl an der Zeit, die Schreckstarre zu überwinden. Es ist gelungen, mit den Deutschen des Jahres 1945 eine Demokratie aufzubauen. Es ist nach dem für alle überraschenden Jahr 1989 die Berliner Republik entstanden, politisch stabil, von vielen Europäern um kulturellen Reichtum und ökonomische Prosperität beneidet. Die Erfolge der Gauland-Weidel-Truppe sind kein Grund, in Panik zu geraten. Die wichtigen Fragen - nach Integration, nach prekären Verhältnissen, nach der Zukunft schrumpfender Regionen, nach Chancengleichheit - stehen schon länger auf der Tagesordnung.

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