Kunst:Mit der Schubkarre in die Wechselstube

Ausstellung der Nominierten für den Preis der Nationalgalerie

Sol Caleros Installation „Amazonas Shopping Center“ ist für den Preis der Nationalgalerie nominiert. Die Wechselstube im Bild erzählt vom Leben in Caracas.

(Foto: Gregor Fischer/dpa)

Die vier nominierten Künstlerinnen für den Preis der Nationalgalerie reflektieren die Gegenwart ganz unterschiedlich. Sie kommen aus der ganzen Welt und arbeiten in Berlin.

Von Jörg Heiser

Wenn junge Künstler mit Preisen ausgezeichnet werden, geht es immer um Aufmerksamkeit. Man könnte dies das Modell "Turner Prize" nennen, das in Großbritannien 1997 seinen Höhepunkt erreichte, als Tracey Emin sturzbetrunken in einer Talkshow-Runde unter älteren Kunst-Granden wie Sir Norman Rosenthal und Sir David Sylvester saß. Die junge Künstlerin verließ das Studio, warf im Abgang aber noch einen großen Satz hin: "Kapierst Ihr's nicht? Ich weil frei sein." Der Auftritt machte Schlagzeilen, das gab es vorher nicht.

Der Preis der Nationalgalerie in Berlin wurde im Jahr 2000 zum ersten Mal vergeben - durchaus mit dem Ziel, einen ähnlichen Effekt zu erzielen. Für landesweite Aufregung sorgte er bisher zwar nicht, stattdessen überzeugt seine konstant gute Auswahl. Von Tacita Dean bis Tino Sehgal, von Katharina Grosse bis Simon Denny zeigte er Künstler, die in größeren Bögen denken und nicht im Modus des Schnellschusses. Auch diesmal legen vier junge, in Berlin lebende, aus allen Himmelsrichtungen der Welt kommende Künstlerinnen eine anregende und sehenswerte Schau hin.

Wie ein wuchernder Tagtraum wirkt Sol Caleros Installation "Amazonas Shopping Center". Sie hat eine Art Parallelwelt aufgebaut, die sich über mehrere Raumabschnitte entfalten. Diese Parallelwelt enthält einen voll ausgestatteten Frisier- und Nagelsalon, ein Internetcafé, eine Wechselstube, ein Reisebüro und ein Salsa-Studio. Über alles legt sich wie Morgentau eine pastellfarbene Ornament-Orgie: Karibisch-südamerikanische Frucht- und Deko-Motive treffen sich am gemeinsamen Nenner von Popkultur und Kitsch.

Diese Ästhetik ist in Berlin allerdings keineswegs exotisch. Ob in Kreuzberg oder Wedding, Marzahn oder Spandau, überall findet man ähnliche Versuche migrantischer Bewohnbarmachung der Welt, die den allgegenwärtigen nüchternen Austausch von Geld gegen Dienstleistungen romantisieren sollen. Dabei romantisiert Calero diese "arme" Ästhetik des Plastik-Deko und der knalligen Farben nicht ihrerseits. Die Wechselstube beispielsweise ist beinahe eins zu eins aus der Wirklichkeit ihrer Heimatstadt Caracas importiert. Im Zuge der venezolanischen Staatskrise ist das Geld so entwertet, dass man es schubkarrenweise braucht, um im Supermarkt zu bezahlen. Vor dieser Wirklichkeit hilft nur die Flucht ins Melodrama einer halbstündigen Telenovela, die Calero zusammen mit der Künstlerkollegin Dafna Maimon geschrieben hat.

Der Humor von Agnieszka Polskas Doppelprojektion ist trockener und kryptischer. Im einen Video spricht die Sonne, im anderen die Erde, dazwischen wir als Vertreter jener Spezies, die letztere gerade drauf und dran ist zu ruinieren. Beide Himmelskörper sehen dabei aus wie aufwendig computeranimierte Emojis, kreisrund und mit Wimpern-umkränzten Kulleraugen. Die Sonne macht sich Sorgen um den blauen Planeten, und sie tut dies mit einer verstrahlt klingenden Off-Kommentar-Stimme, die fortwährend ihre Färbung ändert und mal wie die eines betrunkenen Stand-Up-Comedians klingt, dann wieder wie die eines Quantenphysikers ("alles wurde unumkehrbar in jenem Moment, da ich es beobachtete"). Diese Tour de Force ist überladen mit Sinn, gespeist von einem Gedicht der großen polnischen Dichterin Maria Konopnicka, in dem die Sonne auf das Leben der armen Landarbeiter blickt, aber auch vom neusten Info-Müll im Internet. Die Stimme aus dem Off, die eine fragmentierte Realität schildert und so eine anspielungsreiche Erzählung über die Bilder legt, die nie ganz aufgeht - das ist eine typische Konvention zahlreicher Videoarbeiten der Gegenwart. Oft zieht sich ein lyrisches oder ironisches Ich wie Plastikfolie über die Bilder, so als wäre es gefährlich, wenn diese direkt mit der Luft anderer Lesarten in Berührung kämen.

Eine musikethnologische Exkursion führt zu den Fragen um Israelis und Palästinenser

Eine Schwäche, der auch Jumana Manna mit ihrem dokumentarischen Film "A Magical Substance Flows Into Me" nicht ganz entkommt, zumal sie noch eine Rauminstallation mit großen Hohlformen, die wie Zehen oder Finger aussehen, hinzufügt. Doch wie bei Polska bleiben Bilder und Zeilen im Gedächtnis. In diesem Fall ist der Ausgangspunkt der Musikethnologe Robert Lachmann, der als Jude 1935 aus Deutschland emigrieren musste und nach Palästina ging, wo er seine Forschungen über arabische Musik bis zu seinem Tod 1939 fortsetzte. Jumana Manna sucht heutige Mitglieder jener Bevölkerungsgruppen auf, bei denen Lachmann damals Aufnahmen machte, kurdische oder marokkanische Juden, Beduinen oder Kopten, palästinensische Land- und Stadtbewohner. En passant wird klar, dass das Verhältnis zwischen jüdischem und arabischen Teil der Bevölkerung doch viel komplizierter und enger ist, als man es angesichts aller zerstörerischen Polarisierung zwischen Israelis und Palästinensern für möglich halten würde.

Der zeitliche Bogen, den Iman Issa schlägt, ist noch weit größer. Sie konfrontiert Museumswandtexte, die sich auf archäologische Funde beziehen, mit Objekten, die ganz in die Gegenwart bildhauerischer Formfindung gehören. Beispielsweise steht da eine mit dunklem Holz verkleidete Säule, bei der an einer Stelle eine Latte anlehnt, eine spätminimalistische Variation auf Richard Artschwager - der Wandtext jedoch spricht von der auf das Jahr 1378 datierten "Säule aus dem Löwenhof". Oder ein fragil auf drei Beinchen stehendes, Schminktisch-ähnliches Ding, ausgewiesen als auf das sechste Jahrhundert vor Christus datierte "Statue eines knieenden Bürgers in Anbetung eines Herrschers". Auch die Text-Fundstücke aus dem Museum sind sorgsam ausgewählt, frei flottieren ihre Bedeutungen.

Man mag dies oder jenes Detail bekritteln, aber keine der vier Künstlerinnen verfällt der Sorte humorfreier Selbstbeweihräucherung, die auch die zeitgenössische Kunst zuweilen heimsucht. Und außerdem: Wer zwanzig Jahre nach dem denkwürdigen Turner-Preis von 1997 denkt, die fünfköpfige Auswahljury habe sich verrenken müssen, um vier Künstlerinnen zu finden, die zudem allesamt nicht-deutscher Herkunft sind, verkennt, wie Berlin sich verändert hat. Am 20. Oktober wählt eine zweite Jury die Preisträgerin aus, die mit einer weiteren Einzelausstellung und einem begleitendem Katalog bedacht wird. Keine leichte Entscheidung.

Preis der Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof. Bis zum 14. Januar 2018.

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