Zugreisen:Bloß nicht reden

Hamburg-Köln-Express

So kuschlig geht es nur noch bei der Konkurrenz der Deutschen Bahn zu: Der Hamburg-Köln-Express, kurz: HKX, bietet Bahnfahrern noch Abteile in alten D-Zug-Waggons.

(Foto: Christian Charisius/dpa)

Die Deutsche Bahn schafft im neuen ICE 4 das Abteil ab, denn es ist nicht mehr gefragt. Vielen Fahrgästen ist es inzwischen unangenehm, auf engstem Raum von lauter Fremden umzingelt zu sein.

Von  David Denk

Ohne das Zugabteil hätte Emil seine Detektive wohl nie kennengelernt. Dort, zwischen Neustadt und Berlin, nimmt die Geschichte des Kinderbuchklassikers von Erich Kästner Fahrt auf: mit dem Diebstahl von 140 Mark aus Emils Jackett. Dieser Herr im steifen Hut ist ihm von Anfang an nicht geheuer und dann erst recht nicht mehr, nachdem die übrige Belegschaft ausgestiegen ist und er mit dem Hutträger alleine, aber im Zug kann man sich seine Mitreisenden nicht aussuchen und im Abteil durch die räumliche Abgeschlossenheit noch mal weniger.

Kästner bewies mit "Emil und die Detektive" schon 1929 ein feines Gespür für die Ambivalenz von Reisen im Zugabteil, das bei ihm noch gelegentlich "Coupé" heißt: "Eine seltsame Einrichtung" sei das. "Wildfremde Leute sitzen hier auf einem Häufchen und werden miteinander in ein paar Stunden so vertraut, als kennten sie sich seit Jahren." Manchmal sei das "ganz nett und angebracht", schreibt er. "Manchmal aber auch nicht. Denn wer weiß, was es für Menschen sind?"

Auch der Mord im Orient-Express wäre im Großraumwagen nie passiert - oder hätte zumindest subtiler verübt werden müssen als durch die von Agatha Christie gewählten zwölf Messerstiche. Wer Zugabteile nur von Christie und Kästner kennt, könnte sie für unheimliche, ja gefährliche Orte halten, spielen all die spontanen Gespräche, netten Zufallsbekanntschaften und geteilten Süßigkeiten in ihren Büchern kaum eine Rolle. Und sich von den schönen Seiten des Zugabteils zu überzeugen, wird immer schwieriger, da diese Form des Reisens - zumindest hierzulande - ein Auslaufmodell ist.

Mit dem Winterfahrplan läutet die Deutsche Bahn den Anfang vom Ende des Zugabteils ein, denn nach und nach wird der ICE 4 in Betrieb genommen. Von Dezember an werden täglich auch fünf Züge der neuesten Generation Hamburg mit Stuttgart und München verbinden. Auf 346 Metern Länge bietet der ICE 4 Sitzplätze für 830 Menschen - mit Ausnahme des Kleinkindabteils nur im Großraum. Ein Flugzeug auf Schienen. Als Verlust wird das nur von Bahn-Nostalgikern betrachtet, das Unternehmen trägt damit Kundenwünschen Rechnung. Eine Sprecherin berichtet von einer kontinuierlich gesunkenen Nachfrage nach Abteilplätzen seit den Achtzigern und einer "Großraumpräferenz": "Kunden ohne reservierte Plätze nehmen bevorzugt die noch freien Sitzplätze im Großraumbereich ein, während einzelne Abteilplätze bis zuletzt frei bleiben."

Doch das Phänomen geht noch tiefer: Wer je durch ein Großraumabteil gelaufen ist, beobachtet einerseits hinter ihren Taschen, Jacken, iPads und Laptops verschanzte Fahrgäste, die zwei Sitzplätze beanspruchen, und andererseits solche, die es vorziehen, auch in nicht komplett ausgebuchten Zügen in den Durchgängen zu campieren oder zu stehen, anstatt bei den Wagenburg-Passagieren freundlichst um die Freigabe eines der blockierten Sitzplätze zu ersuchen. Oder wie es die Bahn-Sprecherin formuliert: "Das Bedürfnis, während der Reise andere beliebige Menschen kennenzulernen, entspricht mehrheitlich nicht mehr dem heutigen Zeitgeist." Die Kapsel wird abgelehnt, weil man sich darin nur schwer abkapseln kann.

Die Abneigung gegen als aufgezwungen empfundene soziale Interaktion geht so weit, das sich im Internet "Tipps, um im ICE-Abteil alleine zu sitzen" finden, darunter "Sei fett!", "Sei laut!" und "Sei ein Bazillenmutterschiff!". So griffig das formuliert ist: Satire ist der Beitrag nicht, sondern Service. Darin heißt es: "Nach so vielen Fahrten, die ich nun hinter mir habe, konnte ich ein kleines Konzept entwickeln, wie die Chancen beträchtlich steigen, ein Abteil entweder für sich allein zu haben oder wenigstens nicht so überfüllt sitzen zu müssen wie im Viehwagen."

Nur bei Gruppen sind Abteile noch gefragt. Vorausgesetzt, sie bleiben darin unter sich

Dieser selbst gewählten Vereinzelung, die von den vielfältigen Möglichkeiten des kostenfreien WLAN-Zugangs noch verstärkt wird, ist freilich auch mit der Abschaffung des Zugabteils nicht beizukommen. Die einzigen, die Abteilen noch etwas abgewinnen können, sind Gruppen: Familien, Geschäftsreisende, Kegelclubs - allerdings auch die nur, wenn sie darin alleine sind und ihr kleines Reich auf Zeit nicht mit Außenstehenden teilen müssen.

An einer relativ kleinen Veränderung im Schienenverkehr lässt sich eine ungleich größere in der Gesellschaft ablesen - nur was genau ist da bitte los?

Für Armin Nassehi, Professor am Institut für Soziologie der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, sind öffentliche Verkehrsmittel durch die unausweichliche Konfrontation mit Fremden "ein wirklich stabiler Indikator für so etwas wie urbane Toleranz und angemessenen Umgang mit Pluralismus". Grundlage dessen, was Nassehi "urbaner Habitus" nennt, sei der Konsens darüber, "sich etwa auf engstem Raum kaum zu berühren, Platz zu machen, Rücksicht zu üben, auf direkten Blickkontakt und Kommunikation zu verzichten", zusammenfassend spricht Nassehi vom "Einvernehmen über wechselseitiges Desinteresse" und "Freiheit nicht trotz, sondern wegen sozialer Kontrolle".

Voraussetzung dafür sei, so Nassehi, dass man Informationen über den anderen möglichst kaum aufnimmt, was naturgemäß im Zugabteil schwerer fällt als im Großraumwagen, "weil die Zahl der anderen geringer ist und sich deshalb die Aufmerksamkeit wie auch die nötige indifferente Habitusform auf wenige Personen verteilt".

In der Kinderbuchwelt des Emil Tischbein ist es kein großes Problem, dass die dicke Dame in seinem Abteil sich den drückenden linken Schuh ausgezogen hat, ihr Sitznachbar beim Atmen schrecklich schnauft und auch nicht, dass der Herr im steifen Hut Emil Lügenmärchen über Berlin auftischt - auch wenn der Schnaufer ihn dafür anraunzt. Jeder der Anwesenden übt sich in Abwesenheit - am meisten wohl die Frau, die ohne Unterlass an einem Schal herumhäkelt.

"Emil und die Detektive" ist eben auch schon knapp 90 Jahre alt.

Jeder, der heute regelmäßig in öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs ist, kennt Szenen, in denen die indifferente urbane Habitusform binnen Sekunden in verbale oder sogar körperliche Gewalt umschlägt. Wurden 2013 laut einer Bahn-Statistik 1199 Übergriffe mit Körperverletzung gemeldet, Beleidigungen oder Spuckattacken nicht eingerechnet, stieg die Zahl stetig auf 2374 im vergangenen Jahr - Tendenz weiter steigend. Allein im ersten Halbjahr 2017 ist es zu 1228 Vorfällen gekommen, 84 mehr als im Vorjahreszeitraum. Hier entlädt sich offenbar Frust, der kein anderes Ventil findet. "Je aggressiver eine gesellschaftliche Grundstimmung ist, je niedriger die Schwelle für Übergriffe", sagt Soziologe Nassehi, "desto weniger gelingt soziale Kontrolle bei geringer Anzahl der anderen." Züge im Allgemeinen sowie Abteile im Besonderen werden zu potenziellen Konfliktherden.

Aus soziologischer Perspektive dürfte hier also ein wesentlicher Grund für die gesunkene Akzeptanz von Zugabteilen liegen. Denn wer sitzt schon gern in einem Konfliktherd - und sei es auch nur ein potenzieller. Dann lieber Großraumwagen, Tasche auf den Nachbarsitz, Kopfhörer auf und Augen zu oder auf den Laptop gerichtet. Nassehi jedenfalls verspricht sich von der "Vermeidung geschlossener Areale mit wenigen Personen zugunsten größerer Räume und mehrerer Personen etwas mehr Kontrolle zur Selbstkontrolle". Es klingt weniger nach einer Lösung des Problems als vielmehr nach Schadensbegrenzung in einer feindseligen Welt.

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