Lyrik:Das Schönste ist, wenn man das Schönste nicht bekommt

Minnesaenger Alram von Cresten mit einer Dame - Codex Manesse

Das Geheimnis der Minne: Die Frau anbeten, wissend, dass man sie nicht bekommt.

(Foto: picture alliance / ullstein bild)

Das Geheimnis der Minne: Jan Wagner und Tristan Marquardt baten 68 Dichter, mittelalterliche Lyrik zu übersetzen. Ein Wettkampf mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen.

Von HANS-HERBERT RÄKEL

Achtundsechzig mehr oder weniger bekannte deutsche Dichterinnen und Dichter sind für diesen Band der Einladung der Herausgeber, des Mediävisten Tristan Marquardt und des Lyrikers Jan Wagner, gefolgt, mittelhochdeutsche Gedichte ins Deutsche zu übersetzen. Im Vorwort versprechen diese beiden Veranstalter eine Auseinandersetzung mit dem "literarischen Erbe, das wir alle, die wir heute Gedichte schreiben, teilen". Das Erbe erstreckt sich vom Falkenlied des Kürnbergers (um 1150) bis zum Tausendsassa Oswald von Wolkenstein, der 1445 starb. Es bringt also 300 Jahre Lyrik auf den Nenner der "Unmöglichen Liebe".

Gibt es einen besseren Vasallen als den, der nur um einer Hoffnung willen dient?

Die "unmögliche Liebe" ist eine griffige Formel für das sogenannte Minneparadox, den Widerspruch, der im Zentrum des Minnesangs steht: "Seiner Logik zufolge liebt, singt und wirbt ein männliches Ich um eine Frau, weil sie die Beste und die Schönste ist - doch kann sie genau wegen dieser Eigenschaften seine Liebe nicht erwidern." Welch glücklicher Umstand, dass dieses männliche Ich immer ein Poet ist, eben ein Minnesänger! Das Minneparadox ist ein durch und durch lyrisches Phänomen.

Tristan Marquardt stellt in seiner kurzen Einführung in den Minnesang diese befremdliche Logik ins Zentrum und entwirft den Hintergrund des großen Bildes, welches unsere Dichterinnen und Dichter mit ihren Geschöpfen beleben werden. Was dabei zu kurz kommt, ist die Welt, in der diese Kunstübung einen Sinn hatte. Das esoterische Phantasma des Minnesangs bearbeitet ja unablässig den bitteren Ernst des Feudalismus. Die Wörter "dienest", "lôn", "triuwe", "genâde", "frouwe" haben ebenso wie "minne" keine neuhochdeutsche Entsprechung. Sie bezeichnen etwas, das es nicht mehr gibt. Das Minneparadox ist ein sozialpsychologisches Meisterstück: die Libido zum moralischen Garanten gesellschaftlicher Machtverteilung zu nutzen. Kann man sich einen besseren Vasallen wünschen, als einen, der treu dient - gegen nichts als eine bloße Hoffnung auf "Lohn"? Der Ernst dieser Konstellation erstreckt sich auch in die Religion: Gottesminne, Christusliebe, Marienverehrung borgen nicht erst jetzt, aber jetzt erst recht, ihre psychische Unbedingtheit von der Erotik: Liebe in Treue für einen immer aus Gnade zu gewährenden Lohn - im Jenseits.

Dass mit dieser Sublimierung ein Opfer und ein Verlust einhergehen, spürt die Gesellschaft. Und wir, besonders unsere Dichterinnen und Dichter, aus sicherer, jahrhundertelanger Entfernung, bemerken und schätzen darum unverhohlen die Sänger, die das Minneparadox untergraben. Das Desiderat, eine dauerhafte menschliche Bindung, ist freilich immer noch akut. "Die minne erzeige ich mit der minne / das ich ûf minne minne minne", bekannte der Minnesänger, grimassierend und reimstotternd, und sein Übersetzer macht's ebenso gut: "zum sex sag ich: sex, ich sex dich. /... / ich zersex, weil sex ein must ist, / mit sex ihre sexyness."

Die Herausgeber betonen, "dass ein übersetztes Gedicht auch in der Zielsprache vor allem dies sein muss, eben: ein Gedicht". Darauf nimmt das Layout Rücksicht: Die neuen Gedichte sind, mit großer Initiale und abgesetzten Strophen, auch als Gedichte erkennbar, die alten müssen auf die visualisierte Form verzichten; sie sind wie Prosa in kleinerer Type angefügt. Diese ästhetische Botschaft heißt: man kann sie lesen wie das Kleingedruckte im Mietvertrag. Wie mühsam, eine bestimmte Stelle des neuen Gedichts im alten zu suchen! Die Texte selber folgen strikt der Fassung einer einzigen handschriftlichen Quelle, meistens der Heidelberger (Manessischen). Das ist philologisch korrekt, mehr nicht. Nach diesem Prinzip steht denn auch ausgerechnet Heinrichs von Morungen berühmtes Narzisslied unter "Reinmar der Alte", weil die Würzburger Handschrift es so will. Aber die Zuschreibung an Morungen und die kritische Fassung dieses Liedes (etwas in Ingrid Kastens Lyrik des Mittelalters) ist kein Auswuchs "spekulativer Unterfangen", sondern schlicht das Ergebnis von vielen klugen und nachvollziehbaren Überlegungen. An diesem Punkt greift das Werk zu kurz.

Wolf Biermann hatte in den Neunzigern "Zehn Gebote zum gediegenen Dolmetzschen" verkündet, von denen das erste lautet: Du sollst die Sprache lernen, die du schon kannst: die eigene. So richtig das ist, so bedeutet das Gebot nicht: Du musst zeigen, dass du die Sprache nicht kannst, aus der du gerade übersetzt! Tristan Marquardt zitiert in seiner Einführung zwei Verse von Reinmar, um das Minneparadox zu erklären: "Ich hab da so ein Ding, das vor mir liegt, es streitet innen mit Gedanken, mir im Herzen." Dem dichterischen Übersetzer wollen wir alle Freiheit gönnen, welche die endlich auf den Punkt gebrachte moderne Übersetzungstheorie ihm einräumt: Die Qualität einer Übersetzung misst sich an ihrem Zweck. Wenn es also dem Nachdichter darum ging, einen coolen Reinmar zu vermitteln, dann ist seine Übersetzung ohne Zweifel gelungen. Aber dessen "dinc" ist nicht "so ein Ding", sondern eine causa, eine Rechtssache, eine Streitfrage. Wenn wir ihn also zum Zeugen für ein Kulturphänomen aufrufen, sollten wir ihm nicht das Wort im Munde umdrehen. In der akademischen Übersetzung von Margherita Kuhn heißt es darum auch korrekt und verlässlich: "Ich habe mir eine Frage vorgelegt".

Wolf Biermann hatte, nicht nur um Entgleisungen vorzubeugen, sein drittes Gebot so formuliert: Du darfst alle sprachbegabten und hochgebildeten Freunde als Zuarbeiter ausbeuten. Eine Gruppe von Mediävistinnen und Mediävisten wollte sich gerne ausbeuten lassen, und die Herausgeber danken ihnen dafür, dass mehrere Übersetzerinnen und Übersetzer ihren Rat in Anspruch genommen haben. Aber offensichtlich haben andere diese Hilfe verschmäht. Der im Mittelhochdeutschen weniger bewanderte Übersetzer trifft ja fast nur "falsche Freunde"! Immer mal wieder gelingt es ihnen, sich dichterisch einzuschleichen. Eine Dichterin öffnet uns sogar ihre Werkstatt und lässt uns freimütig zuschauen, wie sie mit den Anfangsgründen des Mittelhochdeutschen ringt und immer wieder stolpert. Das hat etwas Rührendes, ist aber auch peinlich.

Es fällt auf, dass sich viele Dichterinnen und Dichter, vielleicht sogar die meisten, nicht darauf eingelassen haben, eine Übersetzung im üblichen Sinne des Wortes zu versuchen. Das Ergebnis gibt ihnen recht, wenn man ihre Gedichte an der Spannung misst, die sie beim Leser auslösen. Den Minnesang im Modus der Parodie wahrzunehmen, trifft einen Nerv seines Wesens und eröffnet eine Chance, Biermanns sechstes Gebot zu erfüllen: "Keine Übersetzung kann so gut werden wie das Original. Also versuche wenigstens, sie besser zu machen." Die Übersetzung als Kunst des ironischen Überbietens: ein dankbares Geschäft. Aber es zwingt die Dichter, mit verstellter Stimme zu sprechen.

Von wegen reimlose Zeiten: Ein unreiner Reim fällt auf wie eine Zahnlücke

Der frühe Dietmar von Aist raunt nichts vom Minneparadox, wenn er in einem sogenannten Wechsel die Frau für heutige Leser singen lässt: "... Manneye. 1000 Jahre her / will es mir scheinen, dass ich im Arm des Liebsten lag./ ... /Seitdem war meine ganze Freude (das ist ER!) / super short und mein sorrow waaaaaaay too long." Diese Frustrierte kann's noch besser: "du da: wir high. du weg: du high für zwei, ich - down ... dead... alle." Das Englische bietet sich oft an, es durchtränkt hier ohnehin Slang oder Mundmische: "Halligalli halligalli sei die happiness / halligalli der funvolle frühling ... well well halligalli forever!" singt Gottfried von Neifen. Das ausgefallenste Stück ist aber ein stupendes Pop-Patchwork über vier Strophen Heinrichs von Morungen mit nichts als zitierten Versatzstücken: "I was born to sing I live to tell". Ja, das übersetzt wörtlich "wan ich dur sanc bin ze der welte geborn" ("denn zum Singen bin ich in diese Welt geboren". Wer überträgt hier wen? Oder übertragen die Modernen allesamt nur Fetzen desselben geheimen Liedes, das jedem Dichter von einer Frau Minne ins Ohr gesummt wird, wenn er anfängt zu dichten?

Bei der Lektüre all dieser so verschiedenen Annäherungs- und Absetzungsversuche stellen sich ungezählte poetologische Fragen von selbst. Eine sei noch erwähnt: Was tun mit der fast obsessiven Reimkunst des Minnesangs, besonders in seiner späteren Zeit? Einerseits erwarten wir von der Poesie keine Reime mehr, andererseits sind wir überempfindlich, wenn Reime auftauchen. In sehr vielen Übertragungen haben sich die Autoren um die Wiedergabe der Reime bemüht, meistens mit einer Lockerung des Reimschemas und mit raffinierten Abweichungen. Die formale Forderung ist zwar nur eine Spielregel, sie funktioniert trotzdem wie ein Fetisch: ein unreiner oder fehlender Reim fällt immer noch oder wieder auf wie eine Zahnlücke.

Wolf Biermann hatte auch noch gefordert: Du sollst nur Meisterwerke übersetzen, die du liebst und bewunderst. Für Walthers "Vokalspiel" hatte Peter Rühmkorf weder Liebe noch Bewunderung und meinte, dass es wohl unübersetzt bleiben sollte: "artistisch verpfriemeltes Kunstgewerbe", meinte er. Das sehen viele Dichter seit dem Dada anders. Besonders der späte Minnesang hätte da auf dem Rücken der Intention auch noch etwas zu sagen.

Rühmkorf bemerkte allerdings auch - und das ist irritierender -, dass gerade die geistliche Dichtung und schon Walthers Leich "Got, dîner trinitâte" dieselben Vorwürfe verdient. Obwohl "Unmögliche Liebe" auch Texte enthält, die nicht im engeren Sinne zum Minnesang gehören, fehlt hier die geistliche Lyrik ganz, die doch dem Minneparadox viel enger verbunden geblieben ist als die parodistische Tradition. Liebt und bewundert sie keiner mehr?

Ein Fazit? Diese Anthologie hat etwas von einem sportlichen Wettkampf: die Athleten der alten und der neuen Zeit machen sich's gegenseitig nicht leicht. Beide werden dabei ein wenig lädiert: unsere Dichterinnen und Dichter werden manchmal zum Sackhüpfen gezwungen, wo sie sich doch für Sprinter halten, und die Minnesänger erscheinen manchmal gebeutelt und betastet, wo man glaubte, sie seien unantastbar. Gewinner bei diesem Turnier sind wir Leserinnen und Leser, und wer immer sich auch nur von ferne für Lyrik interessiert, sollte sich das Spektakel nicht entgehen lassen.

Tristan Marquardt, Jan Wagner (Hrsg.): Unmögliche Liebe. Die Kunst des Minnesangs in neuen Übertragungen. Zweisprachige Ausgabe. Carl Hanser Verlag, München 2017. 304 S., 32 Euro.

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