Türkei:Erdoğans Rache

Turkish President Tayyip Erdogan speaks during a news conference in Istanbul

Recep Tayyip Erdoğan verfolgt die Unterzeichner eines offenen Briefes als "Sympathisanten kurdischer Terroristen".

(Foto: REUTERS)

Türkischen Wissenschaftlern und Intellektuellen, die in Deutschland leben, droht eine Massenanklage wegen Terrorverdachts. Eine Auslieferung ist zwar unwahrscheinlich - sie könnten aber nicht mehr gefahrlos reisen.

Von Georg Heil, Reiko Pinkert und Ronen Steinke, Berlin

Je mehr Regierungskritiker aus der Türkei Zuflucht in Deutschland finden, desto mehr wird die Bundesrepublik zum Schauplatz von deren Verfolgung. Nun kündigt sich eine Welle neuer Strafverfahren an. Betroffen sind türkische Akademiker, die in Deutschland leben. Die Staatsanwaltschaft in der Türkei will nach Informationen von Süddeutscher Zeitung, NDR und WDR in Deutschland lebende türkische Wissenschaftler und Intellektuelle wegen "Propaganda für eine Terrororganisation" anklagen. Nach Angaben von Betroffenen sind es etwa 100 Personen.

Die Akademiker gehören zu den insgesamt 1128 Unterzeichnern eines offenen Briefs an die türkische Regierung, mit dem sie sich gegen die türkische Politik in den Kurdengebieten wandten. Zu ihnen zählen etwa der Soziologe Muzaffer Kaya, der heute mit Unterstützung eines Stipendienprogramms an der TU Berlin lehrt, sowie die Rechtswissenschaftlerin Zeynep Kıvılcım, die seit September Fellow des Wissenschaftskollegs in Berlin ist und Lehraufträge an der Humboldt-Universität und der Universität Göttingen hat.

Der offene Brief an die türkische Regierung war Anfang 2016 als "Friedensappell" in der Türkei veröffentlicht worden. Darin hatten die Unterzeichner das harte Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in kurdischen Siedlungsgebieten Ende 2015 als "Vernichtungs- und Vertreibungspolitik" bezeichnet. "Wir, die Akademiker und Wissenschaftler dieses Landes, werden an diesem Verbrechen nicht teilhaben!", schrieben sie.

Der Vorwurf lautet: offene Propaganda für die Terrororganisation PKK

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hatte die Unterzeichner daraufhin im Fernsehen als Sympathisanten kurdischer Terroristen dargestellt. Viele von ihnen hatten ihre Stellen an Universitäten verloren, so auch Zeynep Kıvılcım. Der Soziologe Muzaffer Kaya war als einer der Initiatoren des "Appells" knapp sechs Wochen lang inhaftiert worden. Anschließend ging er nach Deutschland.

Nun folgen die Anklagen. Nach Angaben von Betroffenen haben mindestens fünf der nach Deutschland Geflohenen die Anklage bereits in den vergangenen Tagen erhalten. Die übrigen Unterzeichner sollten sich ebenfalls darauf einstellen, ließ die Staatsanwaltschaft Anwälte wissen. Man verschicke laufend weitere der stets wortgleichen Anklageschriften. In der Türkei sollen bereits mehr als 100 der insgesamt 1128 Unterzeichner solche erhalten haben.

In der Anklageschrift heißt es, der "sogenannte Friedens-Aufruf" von Anfang 2016 trage "den Charakter der offenen Propaganda für die Terrororganisation PKK". Der Vorwurf bezieht sich allein auf die Publikation, nicht auf Gewalt oder andere Delikte. Der zuständige Oberstaatsanwalt in Istanbul wirft den Unterzeichnern vor, sie hätten beabsichtigt, den türkischen Staat durch ihre Worte als "illegitime, zerstörende Kraft" darzustellen sowie Gewalt durch die PKK zu legitimieren. Nach türkischem Recht drohen für Terror-Propaganda bis zu siebeneinhalb Jahre Haft.

Bei Terror-Vorwürfen aus Ankara herrscht an deutschen Gerichten erhöhte Skepsis

Eine Auslieferung an die Türkei droht den Betroffenen wohl nicht. Falls die Türkei darum ersucht, entscheidet in Deutschland das örtlich zuständige Oberlandesgericht. Dort ist man aber sehr vorsichtig geworden. Bei Terror-Vorwürfen aus der Türkei herrscht erhöhte Skepsis, seitdem die türkische Regierung damit angebliche Unterstützer der Gülen-Bewegung in großer Zahl verfolgt. Außerdem gelten die Haftbedingungen in der Türkei seit dem Putschversuch am 15. Juli 2016 und der darauf folgenden Repressionswelle vielerorts als problematisch. Zuletzt haben Richter in Köln, Berlin und München deshalb unter Hinweis auf die europäische Menschenrechtskonvention festgestellt, dass man nicht in die Türkei ausliefern könne.

Praktisch droht den in Deutschland lebenden Wissenschaftlern also zunächst, dass sie von der Türkei international zur Fahndung ausgeschrieben werden. Von diesem Zeitpunkt an könnten sie nicht mehr gefahrlos verreisen. Eine Verurteilung in Abwesenheit ist nach türkischem Recht zwar auch möglich, in der Praxis aber weiterhin selten.

Am 5. Dezember soll in Istanbul der erste Prozess gegen einen der 1128 Unterzeichner des "Friedensappells" beginnen, sagt ein mit den Verfahren vertrauter Anwalt - gegen einen Akademiker, der in der Türkei geblieben ist. Die Staatsanwaltschaft setzt auf separate Verfahren. Jeder Beschuldigte soll einzeln vor Gericht kommen. Dass sich diese Anklagen auch gegen in Deutschland lebende Wissenschaftler richten, könnte das deutsch-türkische Verhältnis, das sich gerade durch die Freilassung des Menschenrechtsaktivisten Peter Steudtner zu entspannen schien, erneut belasten.

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