Schau:Affentheater

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Der größte Dichter und der bedeutendste Kritiker: Die Berliner Akademie der Künste zeigt, was Walter Benjamin und Bertolt Brecht verband - und was sie trennte.

Von Lothar Müller

Der kleine Zettel ist liniert und am linken Rand gelocht. Irgendjemand hat ihn dem Notizbuch, zu dem er gehörte, entnommen. Die wenigen Bleistiftzeilen, die ihn bedecken, sind auf den ersten Blick nahezu unlesbar. Das mag dazu beigetragen haben, dass er im Nachlass Bertolt Brechts lange verborgen blieb. Erst vor kurzem fiel er dem Leiter des Archivs, Erdmut Wizisla auf.

Lesbar gemacht durch die ihm an die Seite gestellte Transkription, lässt sich unter der Chiffre "W B" eine Art Gedicht entziffern: "selbst der wechsel der / jahreszeiten / rechtzeitig erinnert / hätte ihn zurückhalten / müssen // der anblick neuer gesichter / und alter auch / neuer gedanken heraufkunft / und neuer schwierigkeiten". Der kleine Zettel ist eine der Entdeckungen in der Ausstellung "Benjamin und Brecht. Denken in Extremen" der Berliner Akademie der Künste. Er enthält die erste schriftliche Reaktion Brechts auf den Selbstmord Walter Benjamins auf der Flucht aus dem besetzten Frankreich Ende September 1940. Die Nachricht hatte ihn mit zehnmonatiger Verspätung erreicht, im August 1941 in Santa Monica.

"Unter Brechts Einfluss treibe Benjamin nur dumme Dinge", sagte Theodor W. Adorno

Brecht wird dem Freitod Walter Benjamins mehrere Gedichte widmen, ihn in seine "Verlustliste" des Jahres 1941 aufnehmen. Der kleine Zettel, Produkt einer Schrecksekunde, ist nur eine Art Gedicht, es ist durchaus ungewiss, ob die Zeilenumbrüche Ausdruck poetischer Formung oder Tribut an das schmale Hochformat des Papiers sind, auf dem der Schreiber im Konjunktiv irrealis gegen die Todesnachricht rebelliert.

Was die beiden Autoren verband, was sie trennte, sorgte schon unter ihren Zeitgenossen für Gesprächsstoff. Ihren Einsprüchen, Erinnerungen, Kommentaren begegnet der Besucher im ersten Raum. Theodor W. Adorno: "Unter Brechts Einfluss treibt Benjamin nur dumme Dinge", Hannah Arendt in einem Vortrag im New Yorker Goethe-Institut 1968: "Die Freundschaft Benjamin-Brecht ist einzigartig, weil in ihr der größte lebende deutsche Dichter mit dem bedeutendsten Kritiker der Zeit zusammenkam. Und es spricht für beide, dass sie es wussten."

Hannah Arendts Stimme ist in einem der Audiodokumente zu hören, neben Erinnerungen der Schriftstellerin und Übersetzerin Elisabeth Hauptmann und der Schauspielerin und Regisseurin Ruth Berlau. Brechts Stimme kennen die Nachgeborenen, von Walter Benjamin ist trotz seiner Arbeiten für den Rundfunk auch in der Vorbereitung dieser Ausstellung kein Tondokument und auch nicht die kleinste Aufnahme einer Filmkamera aufgetaucht. Aber es gibt die lettische Regisseurin Asja Lacis, die sich im Juni 1963 erinnert, wie sie die beiden in Berlin in der Pension in der Meierottostraße, in der sie wohnte, miteinander bekannt machte. Die Initiative dazu ging von Benjamin aus, das Treffen fand im November statt, der Beginn einer spontanen Freundschaft war es nicht.

Erst im Jahr 1929 kann Benjamin seinem Freund Gershom Scholem mitteilen, er habe die nähere Bekanntschaft Brechts gemacht. Das gibt der Ausstellung ihr historisches Profil, sie verfolgt in ihrem Hauptteil den Austausch zweier Intellektueller in den Krisenjahren der Weimarer Republik und in den Jahren des Exils. Gründlicher ist das noch nie geschehen. Beide Archive, das von Brecht wie das von Benjamin, gehören zum Bestand der Berliner Akademie der Künste, aber auch Nachbararchive wurden systematisch durchsucht.

So kam nicht nur der kleine Zettel ans Licht, sondern auch der Bürstenabzug von Walter Benjamins Essay "Was ist das epische Theater?", der 1931 in der Frankfurter Zeitung schon gesetzt war, dann aber von ihrem Redakteur Bernhard Diepold verhindert wurde. Warum, daran lassen die handschriftlichen Kommentare Diepolds in den Fahnen keinen Zweifel. Er hielt Brechts Theaterkonzepts und Benjamins von Siegfried Kracauer bestellten Kommentar, der sich auf die Aufführung von "Mann ist Mann" bezog, für "Affentheater". Außerdem für einen dünnen Aufguss der romantischen Ironie - und den Gestus der radikalen Affirmation, mit dem in Brechts Stück der Prolet Galy Gay seiner Einreihung in die englische Kolonialarmee zustimmt, betrachtete er mit Misstrauen. Könnte die Methode Brechts nicht auch im Sinne Hitlers benutzt werden? Hier blitzt etwas von der gespannten Atmosphäre der Weimarer Krisenjahre auf, ebenso in dem von Brecht und Benjamin im April 1930 ins Auge gefassten Projekt, durch gemeinsam Lektüre "den Heidegger zu zertrümmern".

Das wichtigste Objekt der Ausstellung ist das Schachbrett Brechts aus dem Exil

In ihrem Hauptteil ist die Ausstellung eine imaginäre Bibliothek, in der Bücher, Zeitschriften, Handschriften, Zeichnungen von Paul Klee, die auf den Charme der Reproduktion statt auf die Aura des Originals setzen, audiovisuelle Dokumente und Objekte versammelt sind, darunter der auf einem Hirsch reitende chinesische Weise aus Brechts Berliner Wohnung. Das wichtigste Objekt ist das Schachbrett Brechts, an dem die beiden im Exil saßen, als Benjamin Brecht in Svendborg besuchte. Schach als Metapher führt ins Zentrum von Benjamins Geschichtsphilosophie.

Transkriptionen erleichtern die Entzifferung der Handschriften Brechts und Benjamins, Schautafeln führen Schlüsselpassagen vor Augen, ob es um das Misstrauen Brechts gegen Baudelaire geht, einen der Kronzeugen für Benjamins Sicht auf den Kapitalismus des 19. Jahrhunderts, um die Differenzen bei der Lektüre Franz Kafkas oder um Brechts Argwohn, Benjamin verrate, etwa in seinen Reflexionen über die "Aura", den historischen Materialismus an eine undurchschaubare "Mystik".

Auch Philologen werden in dieser Ausstellung manches Neue entdecken. Aber sie setzt die Kenntnis der Werke nicht voraus, sie führt in sie ein. Das "Denken in Extremen", das sie im Titel trägt, führt an Abgründen vorbei. Im Katalog versieht Jan Philipp Reemtsma Brechts im Jahr 1931 von Benjamin festgehaltene Idee zu einem "Fünftageplan" der proletarischen Revolution, bei dem "in der genannten Frist wenigstens 200 000 Berliner zu beseitigen seien", mit einem bitteren Kommentar. In der Ausstellung widmet Alexander Kluge den "Steuerungsengeln"Benjamin und Brecht einen Container mit bewegten Bildern und Reflexionen, Steffen Thiemann illustriert den geplanten Kriminalroman "Mord im Fahrstuhlschacht" mit Holzschnitten, Collagen und Installationen von Zoe Beloff über Felix Martin Furtwängler bis Edmund de Waal umrahmen die imaginäre Bibliothek. Man sollte nicht zu wenig Zeit in diese Ausstellung mitbringen.

Benjamin und Brecht. Denken in Extremen , bis 28. Januar. Akademie der Künste Berlin, Hanseatenweg 10. Katalog 32 Euro. Info: www.adk.de/benjamin-brecht

© SZ vom 02.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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