Juli Zeh über TV-Qualität:Weltschmerz unter Sternen

Wie dumm sind die Programme wirklich? Eine Schriftstellerin, die gar kein Gerät besitzt, zieht aus, das Fernsehen zu lernen. Die Geschichte eines gescheiterten Selbstversuchs.

Juli Zeh

Ich mache das wirklich nur für die Süddeutsche Zeitung. Einen Tag lang fernsehen soll ich und dabei ein Logbuch führen. Ich habe eingewendet, dass das einem Selbstversuch gleichkommt. Als würde man einen Vegetarier als Restaurant-Tester ins Steakhaus schicken.

Juli Zeh über TV-Qualität Weltschmerz unter Sternen Dieter Bohlen; ddp

Während andere sich bewegen, kann man bequem auf dem Bett liegen - Juli Zeh entdeckt das Fernsehen. Und mit ihm Dieter Bohlen.

(Foto: Foto: ddp)

Meine Eltern besaßen einen Fernseher. Als ich von zu Hause auszog, habe ich mir keinen gekauft. Diesem Sachverhalt lag eigentlich kein ideologisches Konzept zugrunde, außer: Mit Anfang zwanzig, da war alles ideologisch. In meiner Studenten-WG sabotierte ich das Gerät einer Mitbewohnerin, indem ich die Rückwand abschraubte und irgendein Kabel herausriss. Danach saßen wir endlich wieder gemeinsam in der Küche, um uns stumpfsinnig zu betrinken, statt stumpfsinnig vor der Glotze zu hocken.

Später schrumpfte die Kein-Fernseher-Politik auf eine bloße Tatsache zusammen. Meine Tagesabläufe hielten kein passendes Zeitfenster fürs Fernsehen bereit. Anders als Reich-Ranicki musste ich auch nicht die Verleihung eines Fernsehpreises besuchen, um herauszufinden, dass ich nicht unmittelbar zur Zielgruppe des Programms gehörte. Die SZ-Redaktion meint, dass die Eindrücke eines Fernsehabstinenzlers erst recht willkommen seien. Ich soll keinen kulturkritischen Beitrag zur Fernsehdebatte verfassen, sondern einfach aufschreiben, was auf der Mattscheibe und mit mir passiert.

Weil ich kein Gerät besitze, vereinbaren wir, dass ich jemanden besuche, der mich gucken lässt. In Gedanken gehe ich meine Freunde durch: ergebnislos. Fehlt es mir an Fernsehguckern im Freundeskreis - oder einfach an Freunden? Plötzlich wohnen alle hundert bis tausend Kilometer entfernt. Ich konzentriere mich auf die Nachbarschaft. Aber ich lebe auf dem Dorf, und da wird wenig ferngesehen, weil man alles Wichtige am Gartenzaun erfährt. Niemand interessiert sich sonderlich für das Programm, außer zur Fußball-EM, wenn man sich in der Kneipe zwei Dörfer weiter vor dem Flachbildschirm trifft. Der einzige Nachbar, der in Frage käme, hat diese Woche Besuch und will keine Autorin mit glasigen Augen auf seinem Sofa. Außerdem regnet es seit Tagen, und bei Regen funktionieren die Satellitenschüsseln schlecht.

Ein Objekt der Begierde

Die Redaktion erklärt sich bereit, mir ein Leihgerät zu besorgen. Langsam wird mir mulmig. Was, wenn der Fernseher tatsächlich kommt? Wird er meinen Seelenfrieden stören, die Ruhe meines Arbeitszimmers vergiften, mein Leben ändern? Wenn ich ehrlich bin, hat meine Abneigung gegen das Fernsehen nichts mit mangelnder Zeit oder miesen Programmen zu tun. In Wahrheit bin ich neurotisch und traumatisiert. Eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen betrifft den rundlichen, knallroten Kasten meiner Eltern. Er stand im Wohnzimmer, hatte eine Antenne auf dem Kopf, die man ab und zu anfassen musste, um ein klares Bild zu bekommen, und hielt drei Kanäle bereit, natürlich in Schwarz-Weiß. Dieser Fernseher stellte ein Objekt der Begierde dar, denn er war tabu.

Einmal am Tag wurde er für mich angeschaltet, wenn die Sendung mit der Maus lief. Eines Nachmittags schlich ich ins Wohnzimmer und drückte eigenmächtig den verbotenen Knopf. Auf dem Schirm explodierten Bilder aus einer grauenvollen Welt. Verstümmelte, menschen- und tierähnliche Wesen mit schrundiger Haut und spärlichen Haarfetzen auf den Köpfen umtanzten einander in konvulsivischen Zuckungen. Sie lachten dabei, die Gesichter zu furchterregenden Fratzen verzerrt. Meine Eltern fanden mich heulend unter dem Couchtisch. Heute weiß ich, dass ich die Muppet Show gesehen hatte. Damals litt ich jahrelang unter Angstzuständen.

Weltschmerz unter Sternen

Selbst ausgeschaltete Fernsehgeräte hielt ich misstrauisch im Blick, aus Angst, sie könnten mich plötzlich ansprechen. Was will ein Mensch im 21. Jahrhundert, der von der Muppet Show Albträume kriegt? Der Mann von der Fernsehfirma ist mürrisch am Telefon und spricht in Rätseln. Man könne es terrestrisch über einen DVBT-Empfänger versuchen, wahrscheinlich laufe es aber eher auf DVB-C oder DVB-S hinaus. Jedenfalls empfehle er ein integriertes IDTV-Gerät nach ATSC- oder ISDB-Standard, damit man im DTV-Fall keine separate Set-Top-Box brauche und sich nicht mit der Verschlüsselung von Daten zwischen STB und Anzeige auseinanderzusetzen habe. Was mir genau vorschwebe?

Fernsehkritik von Juli Zeh Quiz der Tiere

Nazan Eckes mit verständnislosem Gast in "Das große Quiz der Tiere" (ARD).

(Foto: Foto: ddp)

Ich sage, dass ich einen Tag lang fernsehen möchte. Das ist nicht die richtige Antwort. Welche Programme ich bräuchte? Ich behaupte: alle. Und füge hinzu, dass ich weder über einen Kabelanschluss noch über eine Satellitenanlage und im Inneren des Hauses nicht einmal über Handyempfang verfüge. Die Leitung schweigt. Endlich fragt der Fernsehmann, ob wir noch alle Tassen im Schrank hätten. Ich verweise ihn mit dieser Frage an die Redaktion.

"RT...ell! Aktu...ell!"

Der geplante Abgabetermin für den Beitrag rückt näher. Auf Lesereise entschließe ich mich im Hotelzimmer zu einem selbstständigen Vorstoß. Minutenlang verfolge ich das Programm "Willkommen, Frau Zeh", bis ich mich auf den zwei Fernsteuerungen mit gefühlt 300 Tasten zurechtgefunden habe. Seit ich im Internet auf die Pro-Sieben-Sendung "Switch" gestoßen bin, kenne ich Peter Klöppel. Entzückt verfolge ich, wie der Mann mit der erotischsten Fehlbetonung im Universum in "RT...ell! Aktu...ell!" einen Test empfiehlt, mit dem Eltern auf der RTL-Homepage die Alkoholkrankheit ihrer Kinder diagnostizieren können.

Auf allen anderen Kanälen werden Fragen vor der Werbung gestellt und nach der Werbung beantwortet, ansonsten läuft Wetterbericht. Schließlich bleibe ich an einer Vorabendserie hängen. Die Schauspieler versuchen gar nicht erst, das Spektakel realistisch wirken zu lassen, was ich als meta-fiktionalen Kommentar nicht uninteressant finde. Außerdem macht es Spaß, auf dem Bett zu liegen, während sich andere bewegen. Irgendwo habe ich einmal gehört, man verbrauche beim Fernsehen weniger Kalorien als im Schlaf.

Die Sinnkrücken sind zerbrochen

Gerade bin ich dabei, meine eigene Lesung zu verpassen, als das Telefon klingelt. Der Fernsehmann. Er verstehe zwar immer noch nicht, wozu das gut sein soll, aber die SZ wolle tatsächlich die Kosten für den Auf- und Abbau einer mobilen Satellitenanlage tragen. Dazu sei eine Besichtigung meines Wohnzimmers im brandenburgischen Nirgendwo vonnöten. Wenn er die Gegebenheiten erforscht habe, werde er an einem anderen Tag mit der Technik wiederkommen. Als das Gespräch beendet ist, liege ich in meinem Hotelzimmer mit dem deutlichen Gefühl, nie wieder einen Text schreiben zu können. Seit der Apparat schweigt, ist es so furchtbar still. Mir fällt kein Grund ein, um aufzustehen.

Eine Stunde Fernsehen hat mühelos die Sinnkrücken zerbrochen, an denen ich mich durchs Leben hangelte. Die angemalten Gesichter und abgelesenen Texte auf allen Kanälen hatten vor allem eine Botschaft für mich: "Der Mensch bedeutet nichts und kann von der Welt nichts wissen." Message understood. Angesichts dieser Tatsache ist Fernsehen bis zum Tod die einzig logische Tätigkeit. Leider bin ich zu schwach, um das Gerät wieder anzuschalten. Ich stelle mir eine mobile Satellitenanlage vor.

Sie sieht dem Weltraumteleskop Hubble ähnlich, füllt mein Wohnzimmer komplett aus und empfängt Signale aus den unendlichen Weiten des Universums. Auf einmal weiß ich wieder, warum ich keinen Fernseher habe. Nicht wegen Zeitmangels oder frühkindlicher Traumata. Fernsehen ist kondensierter Weltschmerz. Ein permanentes, vergebliches Anschreien gegen die Leere unserer Existenz. Mich macht das depressiv. Ich erinnere mich, wie ich vor Jahren einmal stundenlang bei Nacht durch Warschau gerannt bin, nachdem ich im Hotel versehentlich eine Sendung mit Anke Engelke gesehen hatte.

Ich rufe die Redaktion an und hisse die weiße Flagge. Am nächsten Abend bin ich wieder zu Hause. Im überschaubaren und friedlichen Internet lese ich, dass Reich-Ranicki für Thomas Gottschalk bei Günter Jauch als Telefonjoker aufgetreten ist. Du Heilige Dreifaltigkeit der Kulturkritik! Was für eine Pointe der Fernsehdebatte. Da klingelt es an der Tür. Draußen steht der Fernsehmann. Er ist eine Stunde durch das nachtschwarze Brandenburg gefahren, weil die Redaktion vergessen hat, ihm abzusagen. Seinen Weltschmerz schreit er zu den Sternen hinauf. "Bruder", sage ich, "Fernsehen ist nur etwas für Leute mit starken Nerven." Aber da ist der Fernsehmann schon wieder in der Dunkelheit verschwunden.

Die mehrfach preisgekrönte Schriftstellerin Juli Zeh, Jahrgang 1974, hat unter anderem die Romane "Adler und Engel" und "Schilf" verfasst.

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