Kriege:Epoche der Verunsicherung

Gregor Schöllgens neues Buch handelt vordergründig von den Kriegen des vergangenen Jahrhunderts. Doch es geht um viel mehr. Das Buch ist ein großartiges Panorama einer Geschichte der Gegenwart - und eine Streitschrift.

Von Bernd Greiner

Wer immer auf die Idee gekommen ist, dieses hervorragende Buch im Haupttitel "Krieg" zu nennen, verkauft es unter Wert. Der Untertitel "Hundert Jahre Weltgeschichte" kommt der Sache schon näher, greift aber auch nicht richtig. Dass im zurückliegenden Jahrhundert in allen Ecken der Welt und über jedes verträgliche Maß hinaus Kriege geführt wurden, ist wahrhaftig nichts Neues. Aber Gregor Schöllgen modelliert das Bekannte neu. Vor allem ruft er Zusammenhänge in Erinnerung, die selten richtig verstanden wurden oder wieder in Vergessenheit geraten sind. Im Grunde handelt der Text zu gleichen Teilen von unserer Gegenwart und ihrem oft ratlosen Bemühen, Orientierung im Chaos zu finden und der Überforderung zumindest so weit zu begegnen, dass die Dinge nicht noch chaotischer werden. Der verdoppelte Blick auf Vergangenes und Gegenwärtiges ist nicht voneinander zu trennen, nur von der Synopse ist Erkenntnis zu erwarten. Wie man komplexe Wechselwirkungen ohne simplifizierende Antworten entschlüsseln kann, demonstriert Gregor Schöllgen auf meisterliche Weise. Und in einer ebensolchen Sprache.

Von Übervätern hält der Autor so wenig wie von vermeintlich vorbildlichen Entwicklungspfaden

Schöllgen, der Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Erlangen lehrt, beschreibt die Zeit zwischen dem Ersten Weltkrieg und heute als Epoche einer aus dem Ruder laufenden Verunsicherung, einer kollektiven Nervosität, die mit intellektueller Regression und moralischer Indifferenz bezahlt wurde. Und nicht zuletzt mit der Bereitschaft, für die Wiedergewinnung von Sicherheit so gut wie jedes Mittel zu akzeptieren und jeden Preis zu zahlen, egal, ob die Bedrohung real oder imaginiert war, von tatsächlichen oder erdachten Feinden ausging, im Inneren oder im Äußeren ihren Ursprung hatte. Sobald aber die Nerven blank liegen, ist es um Politik schlecht bestellt - sofern man unter Politik die Bereitschaft versteht, Differenz verhandelbar und Konflikte überbrückbar zu machen.

Der Dreiklang des Vergangenen ist auf gespenstische Weise vertraut: Sicherheit schafft nur, wer keine Schwäche zeigt; wer darauf besteht, dass die Kapitulation der anderen die Voraussetzung für das Wohlergehen des Eigenen ist; und wer dem Grundsatz huldigt, dass minimale Gefahren jederzeit in maximale Gefährdungen umschlagen können. Da seit 1914 die weitaus meisten Akteure - Starke wie Schwache, Angreifer wie Verteidiger, Ausbeuter wie Ausgebeutete - für diese Logik anfällig sind, muss man sich über ihre Neigung, immer wieder in selbstgestellte Fallen zu tappen, nicht wundern. Auch nicht darüber, dass die Leerstelle politischer Rationalität regelmäßig von Angstunternehmern besetzt wird, deren Geschäfte im Wesentlichen von Hysterie und Dämonisierung leben. Beides aber ist keine Strategie für den Umgang mit globalen Herausforderungen, sondern bestenfalls ein Alibi für ein an der Wurzel vergiftetes strategisches Denken.

Anti-Kriegsdemonstration in Berlin, 1921

Deutsche Traumata: Demonstration des Reichsbundes der Kriegsbeschädigten im Jahr 1921 im Berliner Lustgarten. Vor drei Jahren war der Erste Weltkrieg zu Ende gegangen. Doch die Revisionisten und die Völkischen arbeiteten längst offen und im Verborgenen gegen den „Schandfrieden von Versailles“ an. Ihr Ziel war nicht zuletzt, die Schmach der Niederlage vergessen zu machen – ihr Mittel: der Krieg.

(Foto: Scherl/SZ Photo)

Egal, ob Schöllgen über die Hintergründe der Oktoberrevolution, die ethnischen Säuberungen und Flüchtlingsströme nach dem Ersten Weltkrieg, über den Versailler Vertrag, den Vernichtungskrieg des nationalsozialistischen Deutschland oder Kriege um die knappe Ressource Wasser nachdenkt, ob er die Logik der nuklearen Abschreckungsdoktrin und des Guerillakrieges untersucht oder die Motive zeitgenössischer Terrorgruppen erläutert - man liest jedes Kapitel, gerade auch das andernorts oftmals Erzählte, mit Gewinn, weil auf knappstem Raum die Essenz des Gegenstandes, vor allem aber hintergründige Querbezüge zu anderen Orten und Zeiten deutlich werden. Wohltuend ist nicht zuletzt, dass diese Geschichte ohne idealisierte Akteure auskommt. Von der nachgängigen Konstruktion individueller Überväter, heißen sie Stresemann, Adenauer oder Kennedy, hält Schöllgen ebenso wenig wie vom Hohelied auf vermeintlich vorbildliche Entwicklungspfade. Im Gegenteil. Auch Dilettantismus, Selbstsucht und Kurzsichtigkeit gehören zu den Exportschlagern des "Westens".

Aus seinem politischen Anliegen macht Gregor Schöllgen kein Hehl: mehr als alles andere treibt ihn die Frage nach einer zeitgemäßen Sicherheitsarchitektur um. Genauer gesagt nach einer Politik, die sicherheitspolitische Irrungen und Abwege der Vergangenheit nüchtern bilanziert, aber angesichts des Versäumten nicht die Zuversicht in das künftig Machbare verliert. Ausgerechnet der Kalte Krieg hält Anregungen für eine erfolgreiche Moderation von Konflikten parat - von der Neuvermessung der Beziehungen zur Sowjetunion und zu China bis hin zum INF-Vertrag des Jahres 1987, als sich die Supermächte erstmals auf die Verschrottung einer kompletten Waffengeneration einigen konnten. Gewiss verlangt jede Zeit ihre eigenen Antworten, kann Vergangenes nicht als Handlungsanleitung für die Gegenwart verstanden werden. Aber die genannten Beispiele stehen für etwas Grundsätzlicheres: Für den Mut zur Vision und die Bereitschaft, Neues zu wagen, statt Überkommenes immer nur zu reparieren.

Gregor Schöllgen
Krieg

Gregor Schöllgen: Krieg. Hundert Jahre Weltgeschichte. Deutsche Verlags-Anstalt München 2017, 368 Seiten, 24 Euro. E-Book: 19,99 Euro.

In diesem Sinne kann man das Buch auch als politische Streitschrift lesen. Gerade das Verhältnis zu Russland kommt aus naheliegenden Gründen immer wieder zur Sprache, damit auch die Ignoranz all jener, die einer Frontstellung gegenüber Moskau das Wort reden und ihr Geschwätz unvereinbarer Interessen und unüberbrückbarer Gegensätze als höhere Einsicht anpreisen. Nicht minder hart geht der Autor mit neunmalklugen Kritikern des Nationalstaates ins Gericht, haben sie außer der Dekonstruktion des Alten doch keine neuen Visionen anzubieten. Zwei Beispiele von vielen, die belegen, dass aus Geschichte tatsächlich etwas zu lernen ist - sofern man sich wie Gregor Schöllgen darauf versteht, den Blick weitende Sichtachsen zu schlagen und angemessene Fragen zu stellen.

Bernd Greiner, Historiker und Politikwissenschaftler, leitet das Berliner Kolleg Kalter Krieg / Berlin Center for Cold War Studies.

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