Ende der Sondierungsgespräche:Wie die deutsche Wirtschaft auf das Jamaika-Scheitern reagiert

Nach dem Ende der Sondierungsgespräche · Merkel

Bundeskanzlerin Angela Merkel auf dem Weg zu einem Gespräch mit dem Bundespräsidenten - im Fokus: das Scheitern der Sondierungsgespräche

(Foto: dpa)

"Was für ein Schlamassel": Börsen und Wirtschaftsvertreter setzen nach dem Ende der Sondierungen auf weitere Verhandlungen - und völlig neue Lösungsideen.

Von Michael Bauchmüller und Cerstin Gammelin, Berlin

Was die Europäische Woche der Abfallvermeidung mit der Bildung einer Koalition in Berlin zu tun haben könnte, das hat sich bis zur Nacht auf Sonntag überhaupt nicht erschlossen. Jetzt aber schon. Denn am Montagmittag meldet sich das Bundesumweltministerium in Sachen Abfallvermeidung zu Wort, mit einer klaren Botschaft: Reparieren lohnt sich! Nicht alles, was nicht mehr funktioniere, gehöre gleich auf den Müll. "Wir können Dingen ein zweites Leben geben, wenn wir sie nicht gleich wegwerfen", wirbt das Ministerium. Und das trifft ziemlich genau die Stimmungslage in der deutschen Wirtschaft - nach dieser "Nacht der langen Messer", die mit ziemlich vielen Verwundeten endete.

Das Ergebnis der Bundestagswahl vom 24. September 2017 nach den abgebrochenen Verhandlungen für ein schwarz-gelb-grünes Regierungsbündnis gleich auf den Müll zu werfen und noch einmal neu zu wählen, davon wollen die Spitzen der deutschen Wirtschaft nichts wissen. "Wir rufen Union, SPD, FDP und Grüne auf, ihrer politischen Verantwortung gerecht zu werden", meldet sich am Montag schon früh der Cheflobbyist der deutschen Industrie, BDI-Präsident Dieter Kempf. Alle Parteien müssten bereit sein, Kompromisse für Wachstum, Wohlstand und Beschäftigung zu schließen. Er nimmt auch die Sozialdemokraten in die Pflicht, die bislang jedes Mitregieren ausschließen.

"Was für ein Schlamassel"

Die Wirtschaft, ganz klar, will Ergebnisse. Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer erinnert die Parteien an "ihre staatspolitische Verantwortung". In dieser schwierigen Situation sei "der beharrliche Wille zum Kompromiss gefordert sowie die Bereitschaft, parteipolitische Grenzziehungen zu überwinden". Deutschland brauche eine stabile Regierung, sagt Kramer. "Weder der Abbruch von Verhandlungen noch die Weigerung, Verhandlungen überhaupt aufzunehmen", brächten eine Koalition zustande.

"Was für ein Schlamassel", klagt Holger Bingmann, Präsident des Großhandelsverbands BGA. Die vier Jamaika-Partner sollten sich nun 14 Tage Zeit nehmen, "um sich zu besinnen" - und danach einen neuen Anlauf nehmen. "Wir sind noch nicht bereit, dieses Projekt schon wieder zu begraben", sagt Bingmann. Reparieren lohnt sich.

Auch unter Deutschlands führenden Wirtschaftswissenschaftlern bricht am Montag keine Panik aus. "Ich bedaure, dass es nicht gelungen ist, ein Regierungsprogramm aufzulegen, das Deutschland voranbringt", sagt Clemens Fuest, Präsident des Münchner Ifo-Instituts der Süddeutschen Zeitung. Trotzdem solle man den Abbruch nicht überbewerten. Dass Parteien Nein sagen, wenn sie inhaltlich nicht überzeugt sind, "finde ich eher positiv". Von einer Neuauflage der Großen Koalition hält der konservative Ökonom allerdings nichts. Sicherlich werde man auf die SPD zugehen, sagt Fuest. Er sehe aber die Gefahr, dass eine neue Große Koalition die radikalen Ränder, also Linke und AfD,weiter stärken könnte. Deshalb sollte man notfalls auch ein Experiment wagen: "Ich denke, man sollte über eine Minderheitsregierung nachdenken. Das klappt besser als viele in Deutschland glauben".

Wirtschaftsweise sehen keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Konjunktur

Dazu passt am Montag das Bild an den Börsen. Der Dax gibt nur am Anfang leicht nach, fängt sich aber im Laufe des Nachmittags wieder. Das wiederum hängt auch mit dem Abbruch der Sondierung zusammen: Gewinne verzeichnet der Stromkonzern RWE - der nun erst einmal nicht fürchten muss, bald Kohlekraftwerke stilllegen zu müssen. Die Grünen hatten das gefordert.

Unmittelbare Auswirkungen auf die Konjunktur sehen auch die Wirtschaftsweisen nicht. "Die konjunkturelle Lage ist sehr gut, die deutsche Volkswirtschaft erlebt einen langen und robusten Aufschwung", sagt der Essener Ökonom Christoph Schmidt, der dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung vorsitzt. Mehr noch: Womöglich sei Deutschland von Schlimmerem verschont geblieben. "Ein Bündnis, deren Partner sich in den kommenden Jahren vor allem gegenseitig blockieren würden, wäre wohl noch schlechter als eine schleppende Regierungsbildung", sagt Schmidt.

Zeit des Sparens

Regierungslose Zeiten sind auch Zeiten des Sparens, jedenfalls im Bund. Wegen der abgebrochenen Sondierungen für ein Jamaika- Bündnis verzögert sich die Regierungsbildung wohl weit ins nächste Jahr hinein. Solange es aber keine Koalition gibt, kann diese keinen Haushalt für 2018 aufstellen und dem Bundestag vorlegen. Ohne genehmigten Haushalt wiederum darf die geschäftsführende Regierung nur gesetzlich vorgegebene Ausgaben leisten, etwa Gehälter und Sozialleistungen. Neue Projekte dürfen nicht gestartet werden, es gilt eine Obergrenze für Ausgaben. Grundlage dafür ist der Haushaltsentwurf für 2018, den Ex-Finanzminister Wolfgang Schäuble noch vorgelegt hat. Nachfolger Peter Altmaier wird Geld übrig haben und neue Überschüsse kaum vermeiden können. Zu den voraussichtlich 20 Milliarden Euro 2017 dürfte sich 2018 ein ähnlicher Betrag gesellen. Für die nächste Bundesregierung wird der Geldsegen noch größer werden als bisher absehbar war. Cerstin Gammelin

Ähnlich sieht es auch der Wirtschaftsweise Peter Bofinger - der eigentlich bekannt dafür ist, regelmäßig andere Standpunkte als die Kollegen im Sachverständigenrat zu vertreten. Er hält es für "nicht dramatisch schlimm, wenn es drei oder vier Monate keine Regierung gibt". Grundsätzlich sei es besser, sich Zeit zu nehmen, um eine stabile Regierung zu bilden.

Unsicherheit mag die Wirtschaft allerdings gar nicht

Ohnehin hält Bofinger das Scheitern der Sondierungsgespräche "nicht für ein zu großes Unglück". Ein so breit angelegtes Bündnis hätte leicht in Stagnation enden, sich intern blockieren können. Außerdem habe die Gefahr bestanden, dass die finanziellen Spielräume vor allem genutzt werden, um Steuern zu senken und den Solidaritätszuschlag abzubauen - und nicht, um zu investieren. "Das wäre mit der FDP in die falsche Richtung gegangen", sagt der Würzburger Ökonom. Vor derlei Entwicklungen hatte Bofinger schon im jüngsten Jahresgutachten des Sachverständigenrates gewarnt. Per Sondervotum, versteht sich.

Wie es weitergeht, weiß derzeit niemand, und derlei Unsicherheit mag die Wirtschaft gar nicht. Auch nicht Eric Schweitzer, Präsident des Industrie- und Handelskammertages DIHK. "Unternehmen sind auf pragmatische und verlässliche Rahmenbedingungen angewiesen", warnt er. "Erst recht in einer Zeit europäischer und internationaler Verschiebungen." Auch Österreichs Finanzminister Hans Jörg Schelling sprach von einer "sehr, sehr schwierigen Situation": Gerade in einer Phase, in der es um die Vertiefung der EU gehe, sei Deutschland wichtig.

Ob sich da noch etwas reparieren lässt? "Noch sind hoffentlich nicht alle Stricke gerissen", sagt Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. "Die Jamaika-Parteien müssen einen neuen Anlauf machen."

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