Inklusion:"Mikrogesellschaft mit ganz hoher Toleranz"

An der Staatlichen Integrativen Wirtschaftsschule lernen Jugendliche mit und ohne Behinderung zusammen. Die einen trainieren hier mit der Unterstützung der Lehrer und Logopäden für den Einstieg ins Berufsleben, die anderen erwerben im Gegenzug Sozialkompetenz

Von Nico Schwappacher, Ungergiesing

Im Klassenzimmer beginnt es zu rascheln. Blätter finden ihren Weg in Ordner, Bücher wandern in Taschen, Stifte ins Mäppchen. Der Englischlehrer kündigt noch die Hausaufgabe an - einen Text über die schottischen Highlands sollen die Schüler lesen -, dann aber gibt es kein Halten mehr: Endlich Pause! Eine ganz normale achte Klasse eben - und doch ganz anders.

Denn an der Staatlichen Integrativen Wirtschaftsschule, seit 21 Jahren Teil der Bayerischen Landesschule an der Kurzstraße in Untergiesing-Harlaching, lernen Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam. Beide Gruppen machen jeweils etwa die Hälfte der 65 Wirtschaftsschüler aus. Für die behinderten Schüler bedeutet das ein Stückchen Normalität, die nicht behinderten Jugendlichen erwerben im Gegenzug Sozialkompetenz. Sie alle möchten die Schule mit der Mittleren Reife verlassen.

Inklusion: Max und Jakob büffeln beim Englischunterricht.

Max und Jakob büffeln beim Englischunterricht.

(Foto: Robert Haas)

"Wir sind eine normale Schule mit den Möglichkeiten einer Förderschule", sagt Rupert Bernhofer, Leiter der Wirtschaftsschule. Die Lehrer unterrichten wöchentlich eine Stunde weniger als an Regelschulen, damit Zeit bleibt, auf jeden Schüler individuell einzugehen. In einer Klasse sitzen maximal 20 Schüler. Den behinderten Jugendlichen stehen etwa Krankengymnasten oder Logopäden im Haus zur Verfügung. Reinen Körperbehindertenschulen hat die Landesschule jedoch etwas Entscheidendes voraus. "Dort kommt von außen oft niemand rein", berichtet Bernhofer. "Deshalb haben die Schüler oft Bammel vor der realen Wirklichkeit." Ein Phänomen, das er bei seinen Schützlingen nicht beobachtet.

Inklusion: Laila spricht mit ihrer Unterstützerin Erna Rosenzweig.

Laila spricht mit ihrer Unterstützerin Erna Rosenzweig.

(Foto: Robert Haas)

Eine von ihnen ist Lena Schneck. Die 17-jährige Achtklässlerin ist kleinwüchsig - und eine Teenagerin wie jede andere: modischer Schal, Augenbrauen-Piercing, schwarz lackierte Fingernägel. "Wirtschaft und das Arbeiten am Computer sind total mein Ding. Später möchte ich gerne als Verwaltungsangestellte arbeiten - bei einer Gemeinde oder beim Jugendamt", erzählt sie. Bevor sie nach München kam, hatte sie eine Körperbehindertenschule in Regensburg besucht. "Dort war ich hauptsächlich mit geistig Behinderten in einer Klasse. Da konnte ich mich nicht so gut unterhalten. Hier bewegt sich das auf einer Ebene." Zudem profitiert sie von den Besonderheiten des Gebäudes: Toiletten, Waschbecken, Spinde und Handführungen liegen so tief, dass sie sie ohne Probleme erreicht.

Inklusion: Stephan und Lena sind zusammen mit Lehrerin Elke Wunsch im Kunstunterricht kreativ.

Stephan und Lena sind zusammen mit Lehrerin Elke Wunsch im Kunstunterricht kreativ.

(Foto: Robert Haas)

Das kommt auch der 20-jährigen Laila Dica Farooq zugute, die auf ihren Rollstuhl angewiesen ist. Sie leidet an Muskelschwund, das Sprechen fällt ihr schwer, sie gilt als schwerstbehindert. Umso mehr liebt sie es, mit dem Geist zu arbeiten. Besonders schätzt sie die Ethik-Stunden, in denen sie sich in Diskussionen über den Menschen und seine Lebensführung einbringen kann. "Mir macht es Spaß, frei zu reden", erzählt die Zehntklässlerin. Dabei fühlt sie sich stets ernst genommen. "Hier kommt niemand und sagt: ,Was bist du denn für eine?'" Die Klassenkameraden seien zwar neugierig, fragten auch mal nach, was genau ihr fehle, doch dabei seien sie stets freundlich. "Hier bin ich einfach da und jeder findet das normal", erzählt sie.

Inklusion: Für viele der Schüler ist die Anfahrt beschwerlich. Sie gelingt ohnehin nur mit Rollstühlen und speziellen Fahrrädern.

Für viele der Schüler ist die Anfahrt beschwerlich. Sie gelingt ohnehin nur mit Rollstühlen und speziellen Fahrrädern.

(Foto: Robert Haas)

Anders als Laila Dica sieht man Max Schröder seine Behinderung nicht an. Der 17-Jährige ist Asperger Autist. Der eloquente, hochgewachsene junge Mann mit dem modisch gegelten Haar erhofft sich eine zweite Chance. Zur Schule war er seit seiner Diagnose fünf Jahre lang nicht gegangen. Dann zog er im vorigen Jahr mit seinen Eltern von Nordrhein-Westfalen nach Oberbayern. An der Bayerischen Landesschule versucht er sich nun erneut am Schulabschluss. Das Ziel: "Möglichst normal in einen Job gehen zu können."

Um zu lernen, braucht er bestimmte Rahmenbedingungen, die er an der integrativen Wirtschaftsschule vorfindet: Dazu gehören zum Beispiel kleine Klassen. "Ich bin sehr lärmempfindlich. Wird es zu laut, bin ich abgelenkt und kann mich nicht mehr konzentrieren", berichtet Max Schröder. Lange hatte er mit sozialen Ängsten zu kämpfen. Augenkontakt, Händedruck, Smalltalk: "Das alles war für mich lange vollkommen undenkbar." An seiner neuen Schule habe er sich dennoch niemals wie ein Fremdkörper fühlen müssen. Die Lehrer hätten es ihm leicht gemacht, in der Gemeinschaft anzukommen. "Sie helfen mir, wenn ich Probleme mit der Aufmerksamkeit habe oder mich nicht traue, jemanden anzusprechen." Natürlich gebe es unter den Schülern auch mal Spötteleien, doch auch die sind für den Autisten kein Problem mehr. "Das ist immer lieb gemeint. Niemand möchte sich über die Krankheit des anderen lustig machen", berichtet er.

Dass Körperbehinderte nicht mit Samthandschuhen angefasst werden möchten, weiß auch Richard Dandl, Lehrer für Englisch und Deutsch. Im Gegenteil: "Sie wünschen sich explizit, gleichbehandelt zu werden", berichtet er. "Es gibt hier keinen Qualitätsrabatt für die behinderten Schüler." Es liege an jedem Einzelnen selbst, welche Resultate er abliefert.

"Man kann das nicht mit einer Regelschule vergleichen, die ein behindertes Kind aufnimmt und dann meint, sie betreibe Inklusion", ergänzt Deutsch-, Englisch- und Kunstlehrerin Elke Wunsch. "Dort werden behinderte Kinder immer einen Sonderstatus innehaben." Ein Ansatz, der meist scheitere, im schlimmsten Fall zu Mobbing führe. "Unsere Schule kommt mir manchmal vor wie eine Mikrogesellschaft mit ganz hoher Toleranz", schwärmt die Pädagogin. "Trotzdem erschaffen wir hier keine künstliche Oase", fügt Dandl hinzu: "Schließlich wollen wir die Schüler aufs Leben vorbereiten."

Am Samstag, 25. November, veranstalten die integrative Wirtschaftsschule und die Berufsfachschule der Bayerischen Landesschule, Kurzstraße 2, ab 10 Uhr einen Tag der offenen Tür. Weitere Informationen gibt es unter www.baylfk.com.

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