Attentat in Altena:"Wir sind normales Deutschland"

Attentat in Altena: In einem Döner-Imbiss wurde der Bürgermeister von Altena, Andreas Hollstein, verletzt.

In einem Döner-Imbiss wurde der Bürgermeister von Altena, Andreas Hollstein, verletzt.

(Foto: AP)
  • Nach dem Messerangriff auf den Bürgermeister sitzt der Schock in der nordrhein-westfälischen Kleinstadt Altena tief.
  • Der Bürgermeister hat angekündigt, weitermachen zu wollen. Er sieht die Attacke als Folge eines veränderten Klimas im Land.
  • Der Angreifer, ein 56-Jähriger, soll sich vor dem Attentat über die Aufnahme von Flüchtlingen in Altena beschwert haben.
  • Gegen ihn wird wegen versuchten Mordes ermittelt.

Von Christian Wernicke, Altena

Der Schock sitzt tief. "Niemals", so sagt die Geschäftsfrau in der Fußgängerzone von Altena, "niemals hätte ich mir vorstellen können, dass so etwas bei uns passiert." Nicht hier, in diesem Städtchen unter der mittelalterlichen Burg im engen, schon wintergrauen Tal der Lenne. Dass ihr Altena, ihre Heimat, nun wegen einer schrecklichen Bluttat bundesweit wie international in die Schlagzeilen gerät, das wurmt die Bürgerin: "Dies ist kein fremdenfeindlicher Ort!"

Sie kennt das Opfer, auf dem Weg zum Rathaus kommt der Herr Bürgermeister jeden Tag am Schaufenster vorbei. So weit sei es gekommen, "nicht mal in einer Kleinstadt ist man mehr sicher". Ihr Name solle bitteschön nicht in der Zeitung stehen. Dann schiebt sie nach: "Wir sind normales Deutschland."

Angriff im Döner-Imbiss

Altena ist überall. So ähnlich hat zwei Stunden zuvor auch Andreas Hollstein die Tat gedeutet. Die Attacke ist für den Bürgermeister eine Folge des veränderten Klimas im Land. In dem Hass, der ihm da entgegenschlug, sieht er eine Saat aufgehen, die "Politikergeschwätz" und eine generelle Verrohung der gesellschaftlichen Auseinandersetzung etwa über die Aufnahme von Flüchtlingen gesät hätten: "Wir sind hier genauso polarisiert wie der Rest der Republik," sagt er mit stoischer Miene am Dienstagmorgen in seinem Rathaus.

Hollstein weiß inzwischen, dass der Angreifer quasi von nebenan kam, aus der Nachbarschaft. Auch am Tatort, dem "City-Döner" in der Marktstraße, war der 56-jährige Täter kein Unbekannter. "Der war schon ein-, zweimal da", sagt Ahmet Demir, der Sohn des türkischen Inhabers. Zusammen mit seinem Vater hatte der 27-Jährige am Montagabend den Attentäter zu Boden gerissen, seine Mutter rannte die 30 Meter hinüber zur Polizeistation. Als die erste Polizistin mit gezogener Waffe in den Imbiss stürmte, soll der Mann geschrien haben: "Erschieß' mich doch!"

Die Staatsanwaltschaft im 25 Kilometer entfernten Hagen erließ gegen den Mann am Dienstag Haftbefehl wegen Mordversuchs. Die Ermittler sprechen von "einer fremdenfeindlichen Tat", der Angreifer hatte aber offenbar keine Kontakte zu rechtsextremen Gruppen. Der Täter scheint spontan gehandelt zu haben. "Sind Sie der Bürgermeister", fragte der Mann, der nach Hollstein den Imbiss betreten hatte. Als der CDU-Politiker bejahte, beschwerte sich der Mann, dass die Stadt ihm das Wasser abgedreht habe. Plötzlich setzte er dem Bürgermeisters das Messer an den Hals und brüllte: "Sie lassen mich verdursten und holen 200 Flüchtlinge nach Altena!"

"Wird haben das gewuppt", sagte Hollstein über den Flüchtlingsandrang

Im Sommer 2015, als Hunderttausende nach Deutschland flohen, hatte Altena freiwillig hundert Menschen mehr aufgenommen, als die Stadt musste, vor allem Familien aus Syrien. Hollstein wollte seine Stadt "verjüngen". Altena leidet seit Jahrzehnten unter dem, was Politiker "Strukturwandel" nennen: Früher karrten Busse aus dem Ruhrgebiet jeden Morgen Malocher ins Sauerland. Draht-, Metall- und Elektroindustrie schufen Wohlstand, doch die sind längst weggezogen. Oder pleite. Altena schrumpfte von 32 000 auf 17 000 Einwohner, viele Wohnungen standen leer. Genug Platz für heute 450 Flüchtlinge.

Viele haben damals angepackt in Altena. Ehrenamtliche der lokalen Initiative "Stellwerk" kauften Betten, sammelten Kleidung, brachten Essen und Getränke. Und die Geschäftsleute in der Altstadt verzichteten auf ihre traditionellen Weihnachtsgeschenke an Kunden und spendeten das Geld für die neuen Mitbewohner. "Wir haben das gewuppt", sagte Hollstein damals, Altena habe seine Antwort gegeben auf den bekannten Slogan der Kanzlerin: "Wir schaffen das."

„Angst vor dem Volkszorn“

Bei der Messerattacke in Altena erinnert manches an die Tat des Rechtsextremisten Frank S. vor zwei Jahren. Mit einem 30 Zentimeter langen Bowiemesser war der Mann in Köln auf eine Politikerin losgegangen, es war der 17. Oktober 2015, der Tag vor der Oberbürgermeisterwahl, sein Opfer war die parteilose Kandidatin Henriette Reker, die er für ihre großzügige Flüchtlingspolitik anfeindete. Der Täter wollte ein "drastisches Zeichen" setzen, so steht es im Urteil des Oberlandesgerichts Düsseldorf, "den Politikern Angst vor dem Volkszorn machen und so eine Änderung der Politik erreichen". Diese politische, in anderen Kontexten würde man vielleicht schneller sagen: klassisch terroristische Motivation sehen Ermittler zunehmend. Das Bundeskriminalamt schätzt für 2016 etwa 1800 rechte Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger. Im ersten Halbjahr 2017 seien es 450 gewesen. Delikte gegen Politiker wurden erst im Lauf des Jahres 2016 zur eigenen Kategorie in der Kriminalstatistik erhoben. Anschläge auf politische Amts- und Mandatsträger sind Anschläge auf die Demokratie. Der Kölner Frank S. war in den Neunzigerjahren viel in der Neonazi-Szene unterwegs, in jüngerer Zeit aber vor allem viel im Internet, auf "alternativen" Nachrichtenseiten, so sagt er in Vernehmungen, und dort sei er zu der Überzeugung gelangt: Friedlicher Protest sei nutzlos. Darüber würden Politiker nur lachen.

Der Verfassungsschutzbericht des Bundes verwendet die Begrifflichkeit "asylkritisch" für solche Tatmotive. Aber auch dort spricht man von einer planvollen Gewaltwelle. Sie folgt einem politischen Konzept, auch wenn einzelne Täter spontan handeln mögen. Sie hat deshalb wenig zu tun mit den Anschlägen auf die Politiker Wolfgang Schäuble und Oskar Lafontaine einst, die von psychotischen Einzeltätern begangen wurden. Und sie hat einige Male schon funktioniert. Vor einem Jahr zog sich der junge SPD-Vorsitzende von Bocholt in Nordrhein-Westfalen, Thomas Purwin, nach einem Trommelfeuer von Gewaltdrohungen zurück. Purwin hatte als Kommunalbeamter die Unterbringung von Flüchtlingsfamilien organisiert.

Auch der "falsche Syrer" Franco A., also der rechtsradikale Bundeswehroffizier, der mutmaßlich einen islamistischen Anschlag inszenieren wollte, hatte Todeslisten mit Politikernamen angefertigt. Sein Prozess soll im Januar beginnen. Ähnliche Listen fanden Ermittler auch bei einer rechten Gruppe in Mecklenburg-Vorpommern, die sich "Nordkreuz" nannte. Mit der Gruppe stand Franco A. in Kontakt. Die sechs Männer, die sich zu "Preppern" erklärten (vom englischen prepare, sich vorbereiten), lasen Bücher über eine angeblich bevorstehende "Revolte" von Muslimen, gegen die man sich wappnen müsse, und sie sammelten die Adressen von etwa 100 Politikern. Ronen Steinke

Darauf sind viele in Altena stolz. Nicht nur jene, die sich am Dienstagabend für einen Marsch mit Lichterketten für ihren Bürgermeister rüsteten. Aber man hört auch Zwischentöne in der Fußgängerzone. Zwar hätten sich viele Familien gut integriert, sagt eine Angestellte vom Spielsalon im kleinen Einkaufszentrum, "aber etliche von den jungen Männern verzocken ihr Geld an unseren Automaten". Neulich habe sie selbst gesehen, wie einer ihrer Kunden sich im Rathaus seine Sozialhilfe abgeholt habe: "Das darf nicht sein."

Und es gibt, wie überall, nicht nur Gutmenschen in Altena. Im Oktober 2015 versuchten zwei junge Männer, ein von sieben Syrern bewohntes Haus anzuzünden. Helfer der Flüchtlinge, so genannte Paten, entdeckten den Brand rechtzeitig. Einer der beiden Täter war Mitglied der örtlichen Feuerwehr, beide Männer wohnten in der Nachbarschaft.

Hollstein will weitermachen

Altena hat sich zuletzt berappelt. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 6,9 Prozent, weitaus niedriger als im Ruhrgebiet. Die AfD kam bei der Bundestagswahl auf 10,9 Prozent, weniger als sonst in NRW. Die Armut ist nicht größer als anderswo, Bürgermeister Hollstein zählt vier Obdachlose in seiner Stadt. Dass der Supermarkt nahe dem "City-Döner" in diesem Jahr für immer seine Türen schloss, war ein Tiefschlag. Aber, so erzählt die anonyme Geschäftsfrau, es gebe Lichtblicke: Eine neue Drogerie wolle kommen, ein indisches Restaurant und ein Nagelstudio - betrieben von einer netten Vietnamesin.

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