SPD:In der roten Herzkammer grummelt es

Ob die SPD-Basis einer großen Koalition zustimmen würde, ist fraglich. Denn die verunsicherten Genossen haben die Erfahrung verinnerlicht, dass Regieren mit der Union alles noch schlimmer macht. Aber es gibt eine verwegene Idee.

Von SZ-Autoren

Im kleinen Büro der SPD im Hamburger Stadtteil Harburg hängt große SPD-Geschichte an der Wand. Auf einem Plakat spielt ein Zigarette rauchender Willy Brandt Mandoline, auf einem anderen pafft Herbert Wehner Pfeife - das graue Gebäude heißt schließlich Herbert-Wehner-Haus. Auch die Sessel darin sind rot.

Gegenüber liegen ein China-Restaurant und eine Shisha-Lounge, drinnen im Büro sitzt die sozialdemokratische Kreisgeschäftsführerin Sylvia Mittelstädt und fragt sich, wie das jetzt wohl weitergeht in Berlin. Es ist Freitagvormittag, auch Sylvia Mittelstädt hat natürlich mitbekommen, dass ihr Parteichef Martin Schulz am Donnerstagabend beim Bundespräsidenten war. Mehr weiß sie nicht. "Ich bin auch persönlich sehr neugierig, wie das dann auf dem Bundesparteitag ausgeht", sagt sie. "Die Spannung steigt von Tag zu Tag."

Mit der gleichen gespannten Neugier wie die Genossin Mittelstädt wird in den nächsten Wochen und Monaten das ganze Land auf die SPD schauen, erst auf den Parteitag in der nächsten Woche und dann auf alles, was darauf folgt. Mal wieder. So wie vor vier Jahren. Und wieder wird das Land dabei zusehen, wie diese Partei mit sich ringt, sich windet: große Koalition, ja, nein, vielleicht? Wie, unter welchen Bedingungen? Und zu welchem Preis?

Zwar betont die Parteispitze, dass man auch weitere Möglichkeiten ausloten wolle, etwa eine Minderheitsregierung. Doch die Wahrscheinlichkeit, dass es dazu kommt, gilt als nicht besonders hoch. Wahrscheinlicher ist, dass die SPD im neuen Jahr entscheiden muss, ob sie noch einmal mit der Union koaliert. Sollte es so kommen, würden am Ende, wenn die Mitglieder dieser stolzen, zuletzt aber so oft gedemütigten Partei das Wort hätten, wieder alle kurz den Atem anhalten: Springt die SPD oder springt sie nicht? Ja oder Nein. Ein Vielleicht gäbe es dann nicht mehr.

Allerdings gibt es einen entscheidenden Unterschied zu 2013: Diesmal würde alles noch viel, viel schwieriger.

Ende 2017 bangt die SPD um ihre Existenz

Damals, vor vier Jahren, war die SPD eine tief verunsicherte 25,7-Prozent-Partei, die zwar die Union nicht mochte, aber immerhin hoffen konnte, die Dinge in der Regierung zum Besseren zu wenden und dafür womöglich vom Wähler belohnt zu werden. Am Ende stimmten die Mitglieder mit 76 Prozent für die große Koalition.

Ende 2017 ist die SPD eine um ihre Existenz bangende 20,5-Prozent-Partei, die endgültig die Erfahrung verinnerlicht hat, dass der Wähler ihr weder den Mindestlohn noch die Rente mit 63 dankt, dass also Regieren alles noch schlimmer macht.

Aber wie sieht es an der viel zitierten Basis dieser Partei wirklich aus? Wie wird dort in diesen Tagen diskutiert? Was sind die Sorgen - und was die Befürchtungen?

Die Harburger SPD-Kreisgeschäftsführerin Sylvia Mittelstädt wird beim Berliner Parteitag dabei sein. Als Gast, nicht als Delegierte. Und sie hat ihre Meinung in den vergangenen Tagen geändert. Erst war sie gegen die große Koalition - doch seit die Jamaika-Sondierungen geplatzt sind, sei die Lage eine andere: "Die SPD ist in der Pflicht, das Thema ist zu ernst. Wir müssen versuchen, eine funktionierende Regierung zusammenzubringen. Wir sind ja nicht Italien." Deshalb würde sie es ihrem Vorsitzenden Schulz nicht übel nehmen, wenn er nun doch mit der CDU verhandelte, statt wie versprochen in die Opposition zu wechseln. Sylvia Mittelstädt sagt: "Ich bin auch umgeschwenkt."

Es war ziemlich genau diese nüchterne, verantwortliche Haltung, auf die vor vier Jahren der damalige Parteichef Sigmar Gabriel setzte. Schon damals bezweifelten viele, dass es ihm gelingen könnte, seine Partei von dem ungeliebten Bündnis zu überzeugen. Doch Gabriel war sich seiner Sache ziemlich sicher - oder tat zumindest so: Widerstand, so lautete seine These, gebe es vor allem unter den Funktionären. Wenn man hingegen die echte Basis befrage, die einfachen Mitglieder, dann werde sich das Pendel immer Richtung Regieren neigen. Die Frage ist bloß: Gilt das für die 20,5-Prozent-SPD noch?

Kein SPD-Wahlkampf wäre ohne Jusos denkbar

Christa Becker-Littau hält das für ausgeschlossen. Die Geschäftsführerin der Dortmunder SPD sitzt an einem Abend dieser Woche mit acht weiteren Genossen in einem halbdunklen Theatersaal in der Dortmunder Nordstadt und hält die flache Hand zehn Zentimeter über den Tisch. Bei ihr im Parteibüro, sagt sie, liege "so ein Stapel von Papieren". Alles präventive Austrittserklärungen für den Fall, dass nun doch die große Koalition wiederkäme. "Wenn Ihr das macht, kannste uns gleich abmelden", hätten die Genossen gesagt.

Dortmund, das ist jene Stadt, die der legendäre Fraktionschef Wehner einst zur "Herzkammer der SPD" verklärte. Und ein bisschen ist sie das noch immer, seit mehr als 70 Jahren regieren die Sozialdemokraten hier. Doch von der Macht in Berlin will hier am Tisch niemand etwas wissen. "Nie wieder Groko", das sei am 24. September bei der Wahlparty im Rathaus die Gefühlslage der Genossen gewesen, sagt Unterbezirkschefin Nadja Lüders. "Erleichtert" seien alle gewesen, als Martin Schulz den Gang in die Opposition verkündete. Appelle an "die Staatsverantwortung", also Plädoyers für die große Koalition, habe sie in den letzten Tagen nur von wenigen Mitgliedern gehört. Ganze drei seien es gewesen.

Keiner hier am Tisch will noch einmal mit Merkel. Kopfschütteln, unisono. Warum genau? Zum einen, sagt einer, sei da "die Angst vor dem Untergang", der nach einem weiteren schwarz-roten Bündnis drohen könnte. Zum anderen sei es "eine Frage der Haltung", Widerstand zu leisten. Es werde Zeit, Nein zu Merkel zu sagen. Sonst, so pflichtet ein Stadtbezirkschef aus dem Dortmunder Norden bei, "finden wir niemanden mehr, der beim nächsten Wahlkampf noch mitmacht."

Kein SPD-Wahlkampf wäre ohne Jusos denkbar. Der Parteinachwuchs klebt Plakate, stellt sich in Fußgängerzonen, klingelt an Haustüren. Am vergangenen Wochenende aber, bei ihrem Bundeskongress, knallten die Jusos die Tür schon mal präventiv zu. Die große Koalition sei "ganz großer Mist", rief der neue Juso-Chef Kevin Kühnert unter Beifall. An dieser Haltung dürfte sich nicht mehr viel ändern.

Andererseits waren die Jusos auch 2013 schon dagegen. Am Ende setzten sich die Befürworter durch. Zu ihnen zählt dieser Tage auch der Genosse Hans Eichel.

Hans Eichel wird am 24. Dezember 76 Jahre alt, fast sein ganzes erwachsenes Leben hat er in und mit der SPD verbracht. In der rot-grünen Bundesregierung von Gerhard Schröder war er Finanzminister, und er ist kein Freund großer Koalitionen. Aber jetzt, sagt er, müssten sich Rote und Schwarze zusammentun in Berlin. Warum? "Wegen Europa. Denn sonst geht die Währungsunion kaputt." Nur SPD und Union gemeinsam hätten die politische Kraft, mit Frankreich einen Weg zur Stabilisierung der Euro-Zone zu finden. Ein Jahr, viel mehr Zeit bleibe nicht. Von einer Minderheitsregierung hält er übrigens nichts.

"Es geht beides, erneuern und regieren"

Aber was ist mit dem Widerstand? Mit den vielen Mitgliedern, die eine neue große Koalition ablehnen? Die könne und müsse man überzeugen, sagt Eichel. Und die These, die SPD könne sich nur in der Opposition erneuern? Davon will Eichel nichts hören, schließlich habe man zwischen 2009 und 2013 in der Opposition gesessen. Die große Erneuerung sei bekanntlich ausgeblieben. "Es geht beides, erneuern und regieren", sagt Eichel. Außerdem gehöre "die Konzentration auf große Zukunftsfragen wie etwa Europa" ohnehin zwingend zur Erneuerung. Und dann macht Eichel noch einen Vorschlag, wie man die widerstrebende Basis überzeugen könnte. "Man muss ja keine Koalition auf ganze vier Jahre vereinbaren. Zwei vielleicht. Und dann wird neu gewählt."

Für einen wie Eichel ist das eine geradezu verwegene Idee. Man wird in den nächsten Wochen und Monaten wohl noch viele verwegene, überraschende, auch seltsame Ideen aus der SPD hören. Die Debatte wird weitergehen. Die Frage ist, wie viel diese Debatte eigentlich noch mit dem Leben zu tun hat, das draußen im Land weitergeht.

So wie in Grimma. Dort steht am Montagabend in der Mitte des Rathaussaals der einstige Küchentisch von Martin Dulig. Sachsens SPD-Chef tourt damit seit einigen Jahren durchs Hinterland, um mit der eher schmalen Parteibasis über dies und jenes zu diskutieren. Dies, das könne die schwierige Situation in Berlin sein, sagt die Moderatorin zu Beginn des Abends. Und jenes, das könne auch die Frage sein, "ob der Bus hier fährt".

In den folgenden gut zwei Stunden geht es dann wirklich um vieles. Um die Frage, warum Sachsen zwar wegen Lehrermangels Hinz und Kunz als Seiteneinsteiger an die Schulen holen will, nicht aber eine Frau, die in Syrien tatsächlich unterrichtet hat. Um den Verdacht, dass eine Wachpolizei die Sehnsucht nach mehr auch nur gefühlter Sicherheit nicht stillen wird. Es geht um die Gegenwarts- und Zukunftsfestigkeit der Braunkohle, um ungerechte Ostrenten und unbearbeitete Akten der Treuhand. Und es geht nicht, in keiner Minute: Um die großen Berliner Fragen. Da ist keine Zerrissenheit, kein Streit, da ist offenbar noch nicht einmal Desinteresse. Hinter den vielen lebenspraktischen Fragen bleibt das Ringen im Bund unsichtbar.

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