China Valley:Geschützt durch das Riff

Christoph Giesen

An dieser Stelle schreiben jeden Mittwoch Christoph Giesen (Peking), Marc Beise (München), Karoline Meta Beisel (Brüssel), Helmut Martin-Jung (München) und Jürgen Schmieder (Los Angeles) im Wechsel. Illustration: Bernd Schifferdecker

Ein deutscher Professor hat China vor 30 Jahren ans Internet angeschlossen und die erste E-Mail aus der Volksrepublik verschickt. Was ist aus seinen Hoffnungen geworden?

Von Christoph Giesen

Der Mann, ohne den alles nichts wäre, eilt durch das Konferenzzentrum in Wuzhen. "Können wir uns kurz in diesen Raum setzen?", fragt er einen der vielen Bediensteten in Uniform. Der Raum ist leer, die Antwort lautet: "Nein". Dann muss das Gespräch eben auf dem Gang stattfinden. Werner Zorn lässt sich auf einen der freien Stühle fallen. Die Stars hier in Wuzhen, das sind andere.

Einmal im Jahr tagt in dieser malerischen Wasserstadt zwei Autostunden von Shanghai entfernt die World Internet Conference. Organisator ist ausgerechnet der chinesische Staat. Statt Entwickler in Holzfällerhemden kommen vor allem Parteikader in Anzug und Krawatte. Die Touristen sind verbannt, in den Teehäusern am Wasser ist es gähnend leer, handverlesene Besucher hören sich stattdessen in der neu errichteten Kongresshalle an, wie sich die chinesische Regierung das Internet der Zukunft vorstellt. Und mittendrin dieser Werner Zorn, emeritierter Professor aus Deutschland, einer der Pioniere des Internets. Zorn@germany lautete seine erste E-Mail-Adresse. Landeskennungen gab es damals noch nicht.

Vor 30 Jahren flog Zorn nach Peking. Zehn Tage später war China ans Internet angeschlossen. Die allererste E-Mail verschickte Zorn im September 1987: "Across the Great Wall, we can reach every corner of the world", hatte er getextet - über die Chinesische Mauer können wir jede Ecke dieser Welt erreichen. Und seitdem? "Was hier passiert, überrascht jeden", sagt Zorn und rutscht auf seinem Stuhl herum.

Aus der Direktverbindung nach Deutschland ist der größte Internetmarkt der Welt geworden. Mehr als 700 Millionen Nutzer sind in China online. Allerdings schirmt auch kein Land der Welt seine Bürger so systematisch von Teilen des Internets ab. Die Regierung hat die Great Firewall errichtet, der unverstellte Blick über die Mauer, in alle Ecken der Welt, wie Werner Zorn es erhofft hatte, ist es nicht geworden.

Stattdessen schafft die Volksrepublik für ihre Bürger eine eigene digitale Wirklichkeit. Durch die scharfe Zensur der Behörden ist das chinesische Internet vom weltweiten Netz abgetrennt. Ähnlich einem Korallenriff, das die großen Tiere aus dem weiten Ozean von der Lagune fernhält. Ganz eigene Kreaturen entstehen so, ohne die Furcht, gefressen zu werden. Irgendwann sind die Wesen selbst gewaltig.

Wie die drei führenden Internetunternehmen in China. Man nennt sie BAT. Was nach einem Superhelden klingt, ist die gängige Abkürzung für die Suchmaschine Baidu, den Onlinehändler Alibaba und den Wechat-Konzern Tencent. Die drei Gründer Robin Li (Baidu), Jack Ma (Alibaba) und Ma Huateng (Tencent) werden in China wie Popstars verehrt. Sie alle sind Milliardäre, das Internet hat sie reich gemacht.

Wo immer sie auftauchen, sind sie von Kamerateams umringt, stets begleitet von Leibwächtern. Alle drei BAT-Gründer sind zur Konferenz nach Wuzhen gekommen. Und natürlich schauen alle hier auf sie - auch Werner Zorn. "Nach den Aufbaujahren sind das die großen Player, die den Markt dominieren", sagt er. Dabei sind jene drei Konzerne groß geworden als billige Silicon-Valley-Kopien, geschützt durch das Riff um das chinesische Internet. Alibaba gelang der Durchbruch mit Taobao, einer Website, die Ebay nachempfunden wurde. Inzwischen ist Alibaba profitabler als der amerikanische Versandhändler Amazon. Baidu stieg vor allem deshalb zur populärsten Suchmaschine Chinas auf, weil man dort Raubkopien von Musik herunterladen konnte. Google zog sich vor sieben Jahren entnervt zurück.

Im Silicon Valley staunen sie längst über die vielfältigen Dienste von Wechat

Und Tencent? Nach dem Informatikstudium programmierte Gründer Ma Huateng einen Instant-Messenger und nannte ihn OICQ. Das Kürzel stand für Open ICQ. Prompt wurde er von AOL verklagt, damals ein großer Fisch im weiten Ozean. Der Name erinnere zu sehr an ICQ, einen populären Dienst der Amerikaner, so die Begründung. Aus OICQ wurde QQ und ein großer Erfolg mit Millionen Nutzern in China. 2011 kam Wechat auf den Markt. Das halbe Land hat diese App seitdem installiert. Statt nach der Telefonnummer wird man heute nach seinem Wechat-Namen gefragt. Man kann mit dem Dienst überall bezahlen, selbst in den schmutzigsten Garküchen hängt ein QR-Code, man scannt ihn mit dem Smartphone und schon wird das Geld transferiert. Wechat ist eine Art Schweizer Taschenmesser, vollgestopft mit Hunderten Funktionen. Inzwischen bietet Tencent Entwicklern die Möglichkeit, Mini-Apps zu programmieren, Apps, die nur auf Wechat laufen. Apps in der App also. Im Silicon Valley staunt man längst über diese Erfolgsgeschichte - ohne Werner Zorn undenkbar.

Fast wäre die erste E-Mail in Vergessenheit geraten. Als Zorn 2005 auf einer Konferenz in Tunis während eines Vortrags seine Geschichte erzählte, saß eine chinesische Wissenschaftlerin im Publikum. Sie war davon ausgegangen, dass China erst 1994 ans Internet angeschlossen worden war. So lautete die offizielle Version. Schließlich begann man in China zu recherchieren, befragte ältere Kollegen und wertete Datensätze aus. Dabei fand man heraus, dass es Zorn war, der 1990 die Domain ".cn" im Auftrag Pekings registriert hatte. Ohne seine Hilfe wäre es ein aussichtsloses Unterfangen gewesen, ein Jahr nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens war China völlig isoliert. Heute ist Werner Zorn Mitglied im sogenannten High Level Advisory Council, die letzte Sitzung fand in Wuzhen statt. Auch Jack Ma war dabei, einer der drei BAT-Boys. Er habe sich mit ihm länger ausgetauscht, erzählt Zorn noch. Dann erscheint einer der Uniformierten. Das Gespräch ist vorbei, auch diese Stühle werden gebraucht.

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