Schweiz:Syrerin bringt totes Kind zur Welt - weil ein Grenzwächter nicht hilft

  • Eine Syrerin erlitt auf der Flucht eine späte Fehlgeburt - und ein Schweizer Grenzbeamter untersagte ihr ärztliche Hilfe, obwohl er ihre Lage erkennen musste.
  • Nun wurde der Wächter vor dem Militärgericht in Bern zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten auf Bewährung verurteilt.
  • Der Schweizer hatte dem Vater des toten Kindes vorgeworfen, seine schwangere Frau mit der Reise selbst in Gefahr gebracht zu haben.

Aus dem Gericht von Charlotte Theile, Bern

Es war ein Freitagnachmittag im Juli 2014, als eine Gruppe abgewiesener syrischer Flüchtlinge auf dem Weg von Frankreich nach Italien einen Stopp in der Schweiz einlegte. Am Bahnhof Brig im Kanton Wallis sollten sie den nächsten Zug in die italienische Grenzstadt Domodossola nehmen. Der Zug um 14.44 Uhr aber war voll. Die Flüchtlinge sollten auf den nächsten Zug warten, es war so heiß, dass eine Weiterreise mit dem Bus als "nicht zumutbar" eingestuft wurde.

Der diensthabende Grenzwächter organisierte den Transport. Bald darauf stellte er fest, dass sich unter den Flüchtlingen eine hochschwangere Frau befand. Es ging ihr nicht gut, sie musste sich hinlegen. Ihre Verwandten baten ihn, einen Arzt zu holen. Der Grenzwächter entschied sich dagegen. Als der Zug gegen halb fünf eintraf, musste die Frau von ihren Verwandten in den Wagen getragen werden.

Um 16.44 Uhr fuhr der Zug los. Wenige Stunden später brachte die Frau das Kind in Domodossola tot zur Welt.

Das Kind lebte bei der Ankunft in der Schweiz nicht mehr

Am Donnerstag nun wurde der Grenzwächter vor dem Militärgericht in Bern wegen versuchten Schwangerschaftsabbruches, fahrlässiger Körperverletzung und Nichtbefolgung der Dienstvorschrift zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten auf Bewährung verurteilt. Das Gericht nahm zu seinen Gunsten an, dass das Kind bei der Ankunft in Brig nicht mehr am Leben war - die Anklage auf versuchte Tötung also nicht zutreffe.

Gutachter hatten den Todeszeitpunkt auf "weniger als 12 Stunden" vor der Totgeburt um 21 Uhr geschätzt. Auch sonst war das Gericht dem Angeklagten so weit wie möglich entgegengekommen. Sein bisheriges gutes Führungszeugnis und die psychischen Belastungen, die der Angeklagte durch die internationale Berichterstattung erlitten habe, linderten das Strafmaß erheblich.

Der Ehemann der Syrerin, der den Angeklagten an jenem Julinachmittag immer wieder aufgefordert hatte, einen Arzt zu rufen, nahm die Ausführungen des Gerichts ruhig zur Kenntnis. Er sei froh, dass die Geschehnisse ernst genommen und der Grenzwächter verurteilt wurde, sagte er. Seine Familie denke jeden Tag an das kleine Mädchen, das sie verloren habe.

Der Grenzwächter hatte sich vor Gericht betroffen gezeigt. Eine Entschuldigung an die Familie hatte es aber nicht gegeben.

Die Frau blutete und litt unter starken Schmerzen

Während der Verhandlung war deutlich geworden, dass sich keiner der vielen anwesenden Grenzwächter die Mühe gemacht hatte, mit der Frau zu sprechen oder ihre gesundheitliche Situation in Augenschein zu nehmen. Die Frau hatte Blutungen und litt, während sie auf einer Holzpritsche in Brig auf den Zug wartete, unter starken Schmerzen, vermutlich sogar ersten Wehen. Der Angeklagte, der als höchster diensthabender Grenzwächter und Teamchef die Verantwortung trug, schaute gegen 15 Uhr kurz in die Zelle, unternahm aber nichts. Der Ehemann sagte dem Grenzwächter schließlich, er werde ihn verantwortlich machen, wenn seiner Frau und dem ungeborenen Kind etwas passiere. Der Angeklagte hatte daraufhin erwidert, er allein sei verantwortlich, wenn er seine Frau auf eine solche Reise nehme.

Als diese Sätze am Donnerstag wiederholt wurden, ging ein Raunen durch den Saal. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass der Grenzwächter erhebliche Gefahren für das ungeborene Kind in Kauf genommen hatte. Zudem habe er nichts gegen die Schmerzen der Frau unternommen - was als fahrlässige Körperverletzung gewertet wurde. Des Weiteren wurde der Grenzwächter wegen Nichtbefolgen der Dienstvorschrift zu einer Geldstrafe von 9000 Franken (7700 Euro) verurteilt. Die Beweggründe des Angeklagten überzeugten das Gericht nicht. Er habe den Transport nach Italien nicht verzögern wollen und zudem nicht gewusst, wo er die Frau und ihre Verwandten unterbringen solle, hatte er zur Protokoll gegeben.

"Es hätte eines einzigen Anrufs bedurft"

Nachdem der Zug den Bahnhof Brig verlassen hatte, telefonierte der Angeklagte nach Domodossola und informierte die Kollegen, dass eine schwangere Frau mit medizinischen Problemen im Zug sitze. Kurz darauf beendete er pünktlich seinen Dienst. Um 17.12 Uhr kam der Zug in Domodossola an. Um 18.30 Uhr konnten bei der Untersuchung im Spital keine Lebenszeichen mehr festgestellt werden. Um kurz nach 21 Uhr kam das Mädchen tot zur Welt.

Der Militärrichter in Bern machte deutlich, für wie groß er die Versäumnisse des Angeklagten hält. Spätestens als der Mann gesehen hatte, dass die schwangere Frau nicht mehr laufen konnte und zum Zug getragen werden musste, hätte "auch dem medizinischen Laien" klar sein müssen, dass die Lage ernst war. In der näheren Umgebung des Bahnhofs Brig gibt es zahlreiche Arztpraxen und Notdienste. Der Richter schaute den Angeklagten lange an - und sagte dann: "Es hätte lediglich eines einzigen Anrufs bedurft."

Heute arbeitet der Angeklagte in der Zollfahndung. Wie es mit ihm im Grenzwachtkorps weiter geht, steht nicht fest. Bei einer Bewährungsstrafe spricht wenig dagegen, dass er weiter arbeiten kann. Beide Seiten behalten sich die Möglichkeit vor, das Urteil anzufechten. Für mögliche Entschädigungen muss nicht der Grenzwächter, sondern das Land aufkommen.

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