Stilkritik:Alle in die Warnwesten!

Stilkritik: Sehr gefährlich, so ein Gassigehen.

Sehr gefährlich, so ein Gassigehen.

(Foto: imago stock&people)

Reflektor-Kleidung für Kinder, Radfahrer, Tiere: Die Warnweste ist allgegenwärtig. Wer sie nicht trägt, ist selber schuld.

Glosse von Thomas Hummel

Warnwesten für Hirsche gibt es nicht einmal bei Amazon. Doch aufgepasst, Jeff Bezos: Auch das wird sich durchsetzen! Ein Jungtier aus dem Südharz in Thüringen, das kürzlich in leuchtender Kleidung auf einem Wanderweg erschien, liegt voll im Trend. Nach Angaben der Polizei begegnete der Warnwesten-Hirsch einer Frau beim Spaziergang mit ihren vier Kindern. Er reagierte aggressiv, stellte sich auf die Hinterbeine und trat die Mutter. Sie wurde leicht verletzt, der Schrecken saß.

Der blendende Hirsch aus dem Südharz hatte wohl was falsch verstanden: Die Warnweste berechtigt nicht zum Angriff. Sie ist ein Zeichen der Abwehr, soll denjenigen sichtbar machen, der sonst womöglich übersehen wird. Und die Angst, übersehen zu werden, greift um sich: Der ADAC schickte dieses Jahr 750 000 Leuchtwesten an Grundschulen, eine Autowerkstatt hat 235 000 Westen für Vorschulkinder gestiftet. In Münster, Dormagen, Berlin und anderen Städten verteilt die Polizei die Reflektorjoppen an Radfahrer, ein Regensburger Beamter riet kürzlich: Auch Fußgänger sollten sich so ausstatten, um gut sichtbar zu sein. Die Warnwestisierung der Gesellschaft nimmt ihren Lauf.

Einst erkannte man Müllmänner oder Flugzeuglotsen an den orangefarben oder gelb Retroreflektierendem. Wer hätte gedacht, dass sie einmal zu Stilikonen würden? Verkehrspolizisten zogen nach, Feuerwehrmänner klebten sich Reflektorstreifen auf die Montur. Viele Länder machten es zur Pflicht, für jeden Insassen im Auto eine Warnweste parat zu legen. Inzwischen muss ein Kindergarten, der mit den Kleinen einen Ausflug macht und auf Leuchtkleidung verzichtet, mit wütenden Eltern rechnen. Was hätte nicht alles passieren können zwischen U-Bahn und Tierpark! Und natürlich die Hunde: Gassigehen ohne Reflektoren ist fast ein Fall für den Tierschutzbund.

Auch der Junghirsch aus dem Südharz trug seine XXL-Hunde-Warnweste nicht zum Spaß. Ein älteres Ehepaar, das ihn als Kitz aus einem Maschendrahtzaun befreit und anschließend gefüttert hatte, ist für die Schutzkleidung verantwortlich. "Wir haben einfach Angst, dass er überfahren werden könnte", sagten sie der Bild-Zeitung.

Kann man dagegen etwas einwenden? Gegenfrage: Will jemand von deutschen Autofahrern Tempo 50 auf Landstraßen oder generelles Tempo 30 in den Städten verlangen? Für die Sicherheit der anderen? Auf keinen Fall! Jeder muss selbst schauen, wie er durchs Leben kommt. Nicht nur auf der Straße. Auf der Skipiste tragen immer mehr Sportler Reflektor-Jacken, vermutlich in der Hoffnung, so einen Zusammenprall mit Holländern zu verhindern.

Beim Hirschen hatte die Warnweste einen pfiffigen Zusatzeffekt: Im Wald tragen eigentlich nur Jäger die Leuchtbekleidung, damit sie sich nicht gegenseitig erschießen - für das Tier waren also gleich mehrere Gefahren gebannt. Man darf gespannt sein, wann Tierschützer auf den Trichter kommen, auch Wildschweine, Füchse und Bären damit einzukleiden.

Wer dann noch ohne Warnweste durchs Leben läuft, ist selber schuld. Er wird übersehen, überfahren, sich selbst überlassen. Das Blendwerk wird zum Standard. Allerdings nur im Zusammenspiel mit einer Sonnenbrille. Gerade an dunklen Winterabenden kann das Reflektoren-Gewitter sonst niemand mehr ertragen.

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