Lawinen:Ein Gespür für Schnee

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Die Experten der Lawinenwarnzentrale unterstützen die Mitarbeiter der örtlichen Lawinenkommissionen mit Daten. Sind Straßen oder Wege akut lawinengefährdet, sperren die betroffenen Gemeinden - wie etwa am Sylvensteinspeicher in Richtung Kaiserwacht - die betroffenen Abschnitte. (Foto: Manfred Neubauer)

Der Bayerische Lawinenwarndienst behält die Skigebiete im Blick, damit Wintersportler ihr Hobby möglichst gefahrenfrei betreiben können. Auslöser war ein schweres Unglück vor 52 Jahren. Bis heute lassen sich tödliche Unfälle aber nicht ganz verhindern.

Von Benjamin Engel, Lenggries/München

Oben am Brauneck versteckt sich die Sonne um 6 Uhr früh noch weit hinter dem Horizont. In rund 1500 Höhenmetern ist es am Dezembermorgen dunkel und kalt. Das Thermometer zeigt minus fünf Grad Celsius an. Eisiger Westwind bläst den Schnee mit bis zu 51 Stundenkilometer schnellen Böen von den Kämmen in Rinnen und Mulden. 25 Zentimeter sind an der Hütte der Skiwacht nahe der Bergbahn-Gipfelstation über Nacht gefallen. Jetzt verlässt Rolf Frasch, wie ungemütlich es sein mag, seinen Stützpunkt am Lenggrieser Hausberg - wie fast täglich zur Wintersaison. Um etwas zu sehen, braucht er eine Stirnlampe.

Das Mitglied der Skiwacht geht nur kurz am Höhenkamm entlang. Akribisch prüft er das Gelände sowohl nach Norden als auch nach Süden. Er beobachtet, ob sich am Hang Lawinen gelöst haben. Er analysiert die Wolkenbildung und die Windstärke. Er erfasst, wie viel Schnee seit einem Tag gefallen ist und sich die Schneeoberfläche anfühlt.

Frasch ist einer von nur fünf Frühbeobachtern des Bayerischen Lawinenwarndienstes zwischen Oberstaufen im Allgäu im Westen und den Berchtesgadener Alpen im Osten des Freistaats. Zwischen sechs und sieben Uhr früh telefonieren sie mit der Lawinenwarnzentrale in München, geben ihre Daten an die Meteorologen weiter. Die verarbeiten die Informationen für den täglichen Lawinenlagebericht im bayerischen Alpenraum. Gegen 7.30 Uhr können die Wintersportler die aktuelle Gefahrenlage im Internet (www.lawinenwarndienst-bayern.de) abrufen.

Der Lawinenbericht unterscheidet sechs Regionen von den Allgäuer über die Ammergauer und Werdenfelser Alpen, die Bayerischen Voralpen mit dem Tölzer Landkreis bis zu den Chiemgauer und Berchtesgadener Alpen. Am Donnerstag, drei Tage vor Silvester, herrscht unterhalb der Waldgrenze mäßige, darüber erhebliche Lawinengefahr (Stufe 2 und 3 auf der fünfteiligen Warnskala). Seit dem Vortag sind örtlich bis zu 30 Zentimeter Neuschnee gefallen. Den hat der starke Westwind von den Graten geblasen. Die Triebschneeansammlungen sind schlecht mit der verharschten, teils windverpressten Altschneedecke verbunden. Im kammnahen Steilgelände - an Hängen mit einer Neigung von mehr als 30 Grad - der Ausrichtung Nordwest, über Nord bis Südost sowie in mit Triebschnee gefüllten Rinnen und Mulden ist die Gefahr einer Lawine besonders groß. Die kann schon durch geringe Zusatzbelastung wie einen einzelnen Skifahrer ausgelöst werden.

Zusätzlich zu den Informationen der Frühbeobachter werten die Mitarbeiter der Lawinenwarnzentrale Daten von 19 Messstationen - zwei davon sind im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen am Brauneck und am Herzogstand - aus. Die erfassen automatisch Windgeschwindigkeit, Windböen und -richtung, die Luft- und Oberflächentemperatur sowie die Schneehöhe. Später am Tag geben 22 Nachmittagsbeobachter ihre Eindrücke an die Zentrale weiter. Alle 14 Tage werden Schneeprofile an den offiziellen Messfeldern erstellt, um den Aufbau der Schneedecke im Winterverlauf genau erfassen zu können.

Zu den Mitarbeitern der Lawinenwarnzentrale zählt der Diplom-Meteorologe Thomas Feistl. Sein Tag beginnt schon frühmorgens gegen 5.30 Uhr, damit der tägliche Lagebericht rechtzeitig fertig wird. Zur Grundlage dient ihm die Prognose vom Vortag, für die er zwischen 14 und 17 Uhr mit den Nachmittagsbeobachtern - Mitarbeitern von Skigebieten, Nationalparks, Forstleute oder private Tourengeher - telefoniert. Mit Hilfe einer speziellen Matrix erarbeitet der Meteorologe mit je zwei Kollegen den Lagebericht für den Tag.

Nach einer Regel gilt der Wind als Baumeister der Lawinen. Mehr als 30 Grad steile Hänge sind potenziell gefährlich. Auf freien Wiesenhängen kann der Schnee generell leichter abrutschen. Aus Oberflächenreif kann sich, fällt Schnee darauf, eine Schwachstelle bilden, an der Schneebretter abbrechen können. Aus den Gefahrenstufen von eins (gering) bis fünf (sehr groß) ergibt sich, wie viele Hänge gefährdet sind, ob Lawinen von selbst oder mit welcher Zusatzbelastung ausgelöst werden können.

Fünf Problemsituationen sind entscheidend: Die Experten sprechen von Trieb-, Neu-, Gleit-, Nass- (entsteht bei Wärme oder Regen) und Altschnee. Ist der Boden warm, die Schneedecke aber kalt, steigt laut Feistl Wasserdampf von unten auf. Im Schnee bilden sich kantige Kristalle. "Daraus kann sich eine Schwachschicht in der Schneedecke entwickeln", sagt er. Auf der Gleitfläche könnten Schneebretter abrutschen. Schwankten die Temperaturen auf und ab, sprich friere und taue der Schnee regelmäßig, sei das positiv, sagt der Meteorologe. Denn dann verfestige sich die Schneedecke, was Lawinenabgänge unwahrscheinlicher mache. Wenn es länger kalt bleibt und schneit, kann es für Wintersportler heikel werden, da die Schneedecke nur schlecht verfestigt ist.

Ein Unglück mit zehn Toten und 21 Verletzten am damaligen Hotel Schneefernerhaus auf der Zugspitze gab 1965 den Anstoß zur Gründung des Lawinenwarndienstes. Im November vor 50 Jahren wurde der erste Lawinenlagebericht erstellt. Dieser ist heute ein wichtiges Instrument für alle Wintersportler. Im Schnitt gibt es aber ein bis zwei Lawinentote pro Saison im bayerischen Alpenraum.

© SZ vom 30.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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