Biomedizin:Die Ära der Gentherapie beginnt

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Bei der Gentherapie wird das Erbgut von Patienten gezielt verändert. (Foto: Public Domain)
  • In der Gentherapie gelingen zur Zeit etliche Durchbrüche, etwa bei der Behandlung der Bluterkrankheit, bestimmten Formen von Leukämie oder dem Hunter-Syndrom.
  • Diese zuvor nur schwer behandelbaren Krankheiten lassen sich nun wirksam mit gentherapeutischen Medikamenten bekämpfen.
  • Die Erfolge sind auch der Entwicklung von Viren zu verdanken, mit denen die Wirkstoffe in menschliche Zellen geschleust werden.

Von Kathrin Zinkant

Es war ein ungewöhnliches Problem, auf das die Biomedizin Ende des vergangenen Jahres stieß. Keine ethischen Debatten oder medizinische Skandale, auch keine Absagen der Regulierungsbehörden lähmten einen experimentellen Zweig der Wissenschaft, sondern ein materieller Engpass. Biotechnologisch veränderte Viren, eine unerlässliche Zutat, um gentherapeutische Mittel gegen schwerste Krankheiten herzustellen, wurden plötzlich knapp. Die wenigen, hoch spezialisierten Hersteller der Viren konnten den Bedarf nicht mehr decken.

Die Lieferprobleme sind nicht das einzige Zeichen dafür, dass 2017 das Jahr des Aufbruchs in der Gentherapie war. Das Feld hat sich in den vergangenen Monaten mit Erfolgsmeldungen fast überschlagen. Die Bluterkrankheit, hochaggressive Formen der Leukämie, das Non-Hodgkin-Lymphom, seltene schwere Erbdefekte wie das Hunter-Syndrom, die Hautkrankheit Epidermolysis bullosa oder eine Variante der genetisch bedingten Erblindung - zuvor nur schwer oder gar nicht heilbare Krankheiten lassen sich nun wirksam behandeln, mit einer einzigen Dosis eines gentherapeutischen Medikaments.

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Forschern ist es gelungen, ein wichtiges Gen in die Zellen der Patienten einzuschleusen. Weitere Studien sind notwendig, doch Ärzte sind schon jetzt begeistert.

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In den USA wurden seit dem Sommer drei solcher Therapien von der Arzneimittelaufsicht FDA zugelassen, die ersten Gentherapien überhaupt in den Vereinigten Staaten. Und das Gesicht dieser Zulassungen, die 12-jährige Emily Whitehead, zählt laut der Fachzeitschrift Nature zu einer der zehn Persönlichkeiten, die 2017 einen Unterschied machten. Das Mädchen war vor sechs Jahren fast an ihrer Leukämie gestorben und konnte damals als erste Patientin mit einer zellbasierten Gentherapie geheilt werden. Sie ist heute kerngesund.

Jesse Gelsinger war 1999 der erste Tote nach einer Gentherapie. Er blieb nicht der letzte.

Vor 15 Jahren hätten darauf sicher nur wenige gewettet. Das Forschungsfeld blickte damals auf eine Reihe von schlimmen Ereignissen zurück, beginnend mit dem Tod des 18-jährigen Jesse Gelsinger, der 1999 an einer Gentherapiestudie in den USA teilnahm, ohne selbst lebensbedrohlich erkrankt zu sein. Ein Adenovirus, eigentlich ein Atemwegserreger, wurde als Fähre für ein intaktes Gen genutzt, es sollte in die Zellen der kranken Leber des Patienten eingeschleust werden. Wenige Tage nach der Behandlung starb der Junge an den Folgen einer schweren Immunreaktion, vermutlich ausgelöst durch das Virus. Gelsinger war der erste Tote, den der noch junge Zweig der Biomedizin zu beklagen hatte.

Der letzte war er jedoch nicht. Etwa zur gleichen Zeit hatte der Immunologe Alain Fischer vom Hôpital Necker Enfants Malades in Paris damit begonnen, sogenannte Bubble-Babys einer Gentherapie zu unterziehen. Wegen eines defekten Gens kann das Immunsystem solcher Kinder keine Keime abwehren. Die Krankheit heißt deshalb "schweres kombiniertes Immunschwächesyndrom", kurz SCID. Selbst in sterilen Zelten - den Bubbles - überleben die Kinder nur wenige Jahre. Die einzige Rettung für sie war bisher eine hochriskante Knochenmarktransplantation, für die nur selten der passende Spender bereit steht.

Fischer verabreichte den Kindern ihr eigenes Knochenmark, allerdings erst, nachdem er den Gendefekt in den Stammzellen des Marks durch intakte Kopien des Gens korrigiert hatte. Wie bei Jesse Gelsinger wurde das Gen mithilfe von veränderten Viren in die Zellen geschleust - und zwar höchst erfolgreich. Zehn Kinder entwickelten funktionierende Immunzellen, konnten ein normales Leben beginnen, ein Wunder für alle Beteiligten. Bis ein Jahr nach dem Eingriff das erste Kind an Leukämie erkrankte.

Schuld daran war wiederum das Virus: Fischer hatte ein Retrovirus für die Therapie genutzt, das seine Fracht besonders effektiv ins Erbgut der Zelle einbauen kann. Wie sich bald zeigte, hatte sich das Virus bei einigen Zellen des erkrankten Kindes aber nicht an gewünschter Stelle, sondern in ein gesundes Gen integriert und damit die Leukämie ausgelöst. Als 2002 ein zweites Kind an Leukämie erkrankte und einer der kleinen Patienten starb, wurde die Studie unterbrochen. Die Viren hatten sich vom Vehikel zur Pandora der Gentherapie entwickelt. Man brauchte andere virale Systeme, um die Kranken keinem unzumutbaren Risiko auszusetzen.

Obwohl mehr als 5000 Arten von Viren bekannt und beschrieben sind, ist es extrem schwierig, aus ihnen neue Genfähren zu entwickeln: Die Erreger müssen in der Lage sein, menschliche Zellen zu infizieren, dürfen aber keine schweren Krankheiten auslösen und sollten für das Immunsystem, so weit es noch intakt ist, unsichtbar bleiben. Zudem müssen sie das gewünschte Gen so in die Zelle bringen, dass die Information gelesen und umgesetzt wird. Zugleich darf sich das Virus aber nicht, wie bei den SCID-Kindern in Paris, ins Erbgut der Zelle integrieren. Ziemlich viele Anforderungen, die von natürlich vorkommenden Viren nicht unmittelbar erfüllt werden.

Forscher haben zahlreiche neue Genfähren entwickelt. Sie gelten nach rigorosen Tests als sicher.

Inzwischen ist es Forschern aber gelungen, zahlreiche Genfähren aus verschiedenen Viren zu konstruieren, die weitgehend frei von unerwünschten Eigenschaften sind. Auch Adenoviren und Retroviren werden noch genutzt, allerdings nur in stark veränderter Form. Die erste erfolgreiche Gentherapie eines Patienten mit dem seltenen Hunter-Syndrom gelang mithilfe eines sogenannten Minivirus, der von Adeno-assoziierten Viren abgeleitet worden war. Ein ähnliches System kam bei der ersten effizienten Gentherapie von Blutern zum Einsatz, die vor wenigen Wochen Erfolg vermeldete. Und auch Alain Fischer veränderte seine Genfähren für die Behandlung von SCID und konnte die Studie später erfolgreich fortsetzen.

Nach vielen rigorosen Tests gelten die meisten viralen Genfähren heute als sicher. Zwar bleiben noch Risiken bestehen, und weitere Gefahren können auch unabhängig vom gewählten Virus entstehen. So werden für einige Gentherapien sogenannte Genscheren in die Zellen eingeschleust. Sie gelten als präzise Werkzeuge, könnten allerdings vom menschlichen Immunsystem als fremd erkannt werden. Bislang ist über solche Effekte noch nicht viel bekannt, erste Studien mit diesen neuartigen Werkzeugen an Menschen haben gerade erst begonnen.

Die klassische Gentherapie allerdings, die Jesse Gelsinger und den Bubble-Babys einst zum Verhängnis wurde, dürfte es nun geschafft haben. Allerdings wird sie vorerst nur den seltenen Fällen zur Verfügung stehen, den Waisenkrankheiten, bei denen ein Eingriff ins Erbgut helfen kann. Nur wenige Patienten leiden jeweils an einer dieser Krankheiten. Insgesamt sind es aber doch viele Menschen, so dass der Bedarf an Genfähren so bald nicht abnehmen wird. Weitere Engpässe in der Virenproduktion sind daher nicht ausgeschlossen.

© SZ vom 04.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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