100 Jahre DIN:Bauen mit Vollkasko-Mentalität

Arbeitsmarktzahlen für Sachsen-Anhalt

Jedes Produkt in der Bauindustrie sorgt für immer neue Vorschriften. So baut man etwa mit der DIN EN 771-1:2015-11, die "Mauerziegel" definiert, "Leichtlanglochziegel" und - selbstverständlich - auch "Leichtlanglochziegelplatten".

(Foto: dpa)

Wohnen wird in Deutschland auch deshalb immer teurer, weil es immer mehr Normen gibt. Manche fordern deshalb: Aufräumen im Vorschriften-Dschungel!

Von Gerhard Matzig

Wenn an diesem Freitag die Bundesliga-Rückrunde beginnt (Leverkusen gegen die Bayern), können die Zuschauer auf das hoffen, was die Experten einen "Kracher" nennen. Jenseits der Sphäre von Glaube, Fußball, Liebe und Hoffnung können sich die Fans aber sicher sein, dass nichts kracht, was nicht krachen soll. Abgesehen vielleicht von der Pyrotechnik der üblichen Halbkriminellen. Die Verkehrssicherheit des Bauwerks wie auch aller anderen Stadien ist jedenfalls streng geregelt. Etwa durch die DIN EN 13200-1:2012. Das ist eine Baunorm, die "Merkmale für Zuschauerplätze" definiert.

Es ist beruhigend, dass in Deutschland die Breite der Zugänge in Stadien nach dem "Abstrom der Zuschauer" berechnet wird. Neuferts "Bauentwurfslehre", einem Standardwerk der "Normen und Vorschriften", ist zu entnehmen, dass hierzulande 5000 Zuschauer nicht länger als jeweils höchstens sieben Minuten benötigen sollen, um ein Stadion fluchtartig zu verlassen. Zum Vergleich: In Los Angeles sind es zwölf und in Turin neun Minuten.

Man kann allerdings angesichts des bürokratischen Furors verzweifeln, der mit einer Unzahl von Normen, Standards und Technikregeln das Bauen in Deutschland immer komplizierter, langsamer und dabei auch teurer, anfälliger sowie - ästhetisch betrachtet - auch banaler, eben normgerecht, ja normal macht. Der das Bauen einebnet und einer allgemein auch sonst anzutreffenden Vollkasko-Mentalität unterordnet. Im Fall der Fälle kann man aber auch einer Baunorm sein Leben verdanken. Ein Großbrand, wie er im Londoner Grenfell-Hochhaus Dutzende von Menschenleben gefordert hat, auch, weil die Fassadenverkleidung als Brandbeschleuniger gewirkt hat, ist wegen der diesbezüglich strengeren Bauvorschriften in Deutschland weniger wahrscheinlich. So gesehen: ein Hoch auf die Norm!

Wie im Keller: Es kommt nur etwas dazu, selten trennt man sich wieder von den Dingen

Die wird in diesem Jahr 100 Jahre alt und verweist auf eine Erfolgsgeschichte. Was aber auch ein Problem sein kann. Vor allem am Bau ist die Norm ein schillernd zwitterhafter und in jedem Fall dramatisch um sich greifender Begriff. Die Architektin und Präsidentin der Bundesarchitektenkammer Barbara Ettinger-Brinckmann, die am Dienstag auf dem Dresdner Symposion "Baustandards - Regulierung anders denken" sprach, nennt eine erstaunliche Zahl: "Etwa 3000 Normen sind für das Bauen relevant." Mehr also als je zuvor. Man müsse den Vorschriften-Dschungel, in dem sich regionale, nationale und europäische Normen kreuzen, endlich einmal lichten. "Das ist wie mit dem Keller oder dem Dachboden: Es kommt immer nur etwas dazu - aber selten trennt man sich auch von den Dingen." Das Gebot der Stunde? "Aufräumen!"

Dafür gibt es auch einen wirtschaftlichen und zudem hochpolitischen Grund: Das Wohnen in den Ballungszentren war noch nie so teuer wie heute. Eine Ursache dafür nennt Hans-Otto Kraus, der im Beirat der Bundesstiftung Baukultur sitzt und lange in München der Wohnungsgesellschaft GWG und ihren 28 000 Wohnungen vorstand. Er sagt: "Von 2007 bis 2014 haben sich die Baukosten im Wohnungsbau meiner Erfahrung nach um 40 Prozent verteuert." Allein wegen immer neuer Bauvorschriften und Standards.

Sicherheit und Umweltverträglichkeit sind nicht die einzigen (berechtigten) Motive der Baugesetzgebung. Eine andere Ursache liegt im Interesse der Normenden. Ettinger-Brinckmann, die für die Architektenschaft, aber auch für die Bauwirtschaft insgesamt gegen die Normflut kämpft, sagt, dass das Deutsche Institut für Normung e. V. als bedeutendste nationale Normungsorganisation nur zu etwa 30 Prozent vom Bund finanziert wird. Rund 70 Prozent des Erlöses kommen demnach aus dem Vertrieb der Normen. Um etwa online Zugang zu dem für Planer wichtigen Regelwerk zu erhalten, wird eine "Jahresnutzungsgebühr" von knapp 600 Euro erhoben. Die Normenden leben also gut von immer mehr Normen. Warum sollten sie selbst das ändern wollen?

Eine dritte Kraft hinter dem Norm-Tsunami ist die Bauindustrie. Deren Produkte erhalten durch die Normierung eine Art Tüv-Siegel. Jedes Produkt sorgt so für immer neue Vorschriften, auch im Interesse der eigenen Verkäuflichkeit. So kommt es, dass man nicht mit Backsteinen baut, sondern mit der DIN EN 771-1:2015-11: "Mauerziegel, Leichtlanglochziegel und Leichtlanglochziegelplatten". Das Bauen war schon mal einfacher, billiger, schneller und auch schöner.

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