Unwort des Jahres:Eine Welt, in der alle nur noch meinen wollen

Pictures of the Year: U.S. Politics

Kellyanne Conway, die Schöpferin des Unworts des Jahres, sprach von "alternativen Fakten", die erklären sollten, dass bei der Amtseinführung Trumps (links) mehr Menschen in Washington zugegen waren, als bei der seines Vorgängers Barack Obama.

(Foto: REUTERS)

Wer von "alternativen Fakten" spricht, verweigert jeden Diskurs. Der Ausdruck tarnt perfide eine Geisteshaltung, die wie kaum eine andere in unsere Zeit passt.

Kommentar von Carolin Gasteiger

Egal, was die Fakten sagen. Egal, was die Luftaufnahmen zeigen. Die weißen Flächen auf der National Mall in Washington. Die Menschengruppen, die diese Leere kaum füllen können. Sean Spicer war das egal. Im Januar 2017 behauptete der damalige Pressesprecher des Weißen Hauses trotzig: Niemals zuvor hätten so viele Menschen die Vereidigung eines US-Präsidenten besucht. Donald Trumps Wahlkampfmanagerin Kellyanne Conway verteidigte Spicer anschließend in einem Interview - und zwar mit einer Wortschöpfung, die nun zum Unwort des Jahres gekürt wurde.

"Sean Spicer, unser Pressesprecher, hat dazu alternative Fakten dargestellt."

"Alternative Fakten" also. Die Bezeichnung sei "der verschleiernde und irreführende Ausdruck für den Versuch, Falschbehauptungen als legitimes Mittel der öffentlichen Auseinandersetzung salonfähig zu machen", erklärt die Jury.

Zeugnis einer gesellschaftszersetzenden Geisteshaltung

Aber der Ausdruck bezeichnet viel mehr als nur einen wahrheitsverkennenden Begriff. Viel mehr als nur ein "Unwort des Jahres". "Alternative Fakten" benennt ein Zeitgeist-Phänomen, eine gesellschaftszersetzende Geisteshaltung, die nicht nur in den USA erkennbar ist. Die Formulierung "alternative Fakten" sei auch in Deutschland zum Sinnbild für besorgniserregende Tendenzen im öffentlichen Sprachgebrauch geworden, so die Jury.

Dabei sind "alternative Fakten" schon im wörtlichen Sinn ein Widerspruch. Zu Fakten gibt es nun mal keine Alternative. Aber das genau ist das Perfide - gesteht der Begriff unserer Welt doch nicht mehr nur die eine Wahrheit zu, sondern viele verschiedene. Und klingt dabei auch noch besorgniserregend versöhnlich. Nach dem Motto: Ihr habt eure Fakten, schön. Wir haben aber unsere. Und die sind genauso wahr. Im Kopf trällert Pippi Langstrumpf unschuldig: "Ich mach mir die Welt, wiedewiede wie sie mir gefällt." Und ja, "alternative Fakten" klingt ähnlich verharmlosend wie das Kinderlied. Von der Wut, die zu spüren ist, wenn US-Präsident Trump dem Nachrichtensender CNN etwa "Fake News" entgegenbrüllt - beide Ausdrücke bezeichnen im Grunde nichts anderes als Lügen -, ist beim Bild der "alternativen Fakten" kaum mehr etwas zu spüren. Der Ausdruck klingt versöhnlicher - und bezeichnet doch eine neue Eskalationsstufe.

"Fake News" tragen die Falschheit im Namen, "alternative Fakten" negieren sie. Fakten sind nicht mehr einfach nur wahr oder falsch, sie sind auch noch alternativ. Und damit zulässig. Der Ausdruck wird oft mit Manipulationstechniken aus dem berühmten dystopischen Roman "1984" von George Orwell verglichen, mit Neusprech etwa oder Doppeldenk. Sprachtechniken, die Menschen verführen sollen. Man muss Conway und dem Trump-Team wohl unterstellen, dass sie sich dieser Verführungstechnik, dieses Ablenkungsmanövers ganz bewusst waren, als sie den Begriff "alternative Fakten" in den Diskurs einführten. Ein neuer Ausdruck für eine neue Zeit. Eine Zeit, in der Menschen nur noch meinen wollen. Und in der Meinung und Gefühle mehr zählen als Fakten. Eine Zeit, in der die AfD selbst im Bundestag Tatsachen sehr großzügig zu ihren Gunsten verdreht - und "alternative Fakten" schafft.

Wer "alternative Fakten" gebraucht, der negiert nicht nur jegliche wissenschaftlich-empirisch belegbaren Beweise. Er zerstört gleich den ganzen Diskurs, indem er alle, die auf der Basis von Tatsachen diskutieren wollen, entwaffnet. Auf welcher Grundlage soll man noch debattieren, wenn jeder seiner eigenen Wahrheit folgt? Der Glaube - und das ist es ja, ein Glaube - an "alternative Fakten" kündigt den Gesellschaftsvertrag auf. Er spaltet, statt zu einen. Er betont Unterschiede, er trennt in Lager. Das Unwort des Jahres ist verheerend und beängstigend - und viel mehr als der sprachkritische Appell einer Jury.

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