U-Bahnkontrollen:Schon Lenin hat die Bahnsteigkarte belächelt

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40 Cent kostet eine Bahnsteigkarte, mit der man keinesfalls in einen Zug steigen darf, sondern nur hinab zu den Gleisen. (Foto: Stephan Rumpf)

Wer einen U-Bahnhof betritt, muss ein 40-Cent-Ticket lösen. Andernfalls ist man ein "Schwarzsteher". Damit steht München ziemlich allein da.

Von Theresa Parstorfer

Nicht nur Schwarzfahren, auch Schwarzstehen kann man in München. Das verkündet der grüne, manchmal blaue Balken über den Stempelautomaten an allen U- und einigen S-Bahnhöfen: "Zutritt nur mit gültigem Fahrausweis". In erster Linie bedeutet das natürlich, dass jeder ein Ticket braucht, der die S- oder U-Bahn benutzen möchte. Allerdings heißt das auch, dass es offiziell nicht erlaubt ist, beispielsweise die Großeltern vom Bahnsteig abzuholen oder sich romantisch am Bahnhof vom Freund oder der Freundin zu verabschieden, wenn man nicht vorher eine sogenannte Bahnsteigkarte für 40 Cent gelöst hat.

Immer wieder gibt es wegen dieser Regelung Ärger. In einem Fall musste eine Münchnerin 60 Euro Bußgeld zahlen. In der Mittagspause wollte sie zwei Croissants beim Bäcker im Zugangsgeschoss der S-Bahn am Isartor kaufen. Da Croissants dort schon alle weg waren, empfahl der Verkäufer ihr den Bäcker auf der anderen Seite des S-Bahngleises.

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Um dorthin zu kommen, durchquerte sie den Bereich zwischen den grünen Balken. Auf der anderen Seite verlangten Kontrolleure einen gültigen Fahrschein, und sie musste zahlen. "Pauschale Ausnahmen" könne man in solchen Fällen nicht machen, sagt Matthias Korte, Sprecher der Münchner Verkehrsgesellschaft (MVG). Grundsätzlich gälten eben für alle dieselben Regeln. Die MVG ist darüber hinaus der Ansicht, dass "es genügend Informationsmöglichkeiten gibt".

In kaum einer deutschen Großstadt gibt es noch Bahnsteigkarten. Bei der Münchner Verkehrsgesellschaft aber spricht man sich eindeutig gegen einen Abschaffung der Tickets aus. Das ist so, "weil nach wie vor Sperrenkontrollen" durchgeführt werden, erklärt MVG-Sprecher Korte. Dabei fragen Kontrolleure jeden, der aus dem Bereich hinter dem grünen Balken kommt, nach dem Fahrschein - oder der Bahnsteigkarte.

Mit dieser Methode könne man Schwarzfahrer sehr viel besser erwischen, heißt es bei der MVG. Die Ausrede, man habe lediglich jemanden vom Zug abgeholt, könne dann nicht mehr vorgebracht werden, bestätigt auch Beate Brennauer vom Münchner Verkehrs- und Tarifverbund (MVV). 16 000 Bahnsteigkarten seien im vergangenen Jahr verkauft worden. Gelöst werden müssen sie bei der S-Bahn nur an den Tunnelbahnhöfen Marienplatz, Isartor, Rosenheimer Platz, Hauptbahnhof und Karlsplatz, jedoch an allen U-Bahnhöfen.

In gewisser Hinsicht hinkt München mit seinen Bahnsteigkarten dem internationalen Standard hinterher. Denn in den meisten Großstädten sind Sperrenkontrollen und deshalb auch Bahnsteigkarten hinfällig, da "die Abfertigung anders abläuft", erklärt Brennauer. In Städten wie Paris oder London ist der Zugang zu den Bahnsteigen nur noch über automatische Zugangsschranken möglich, die ein Ticket verlangen, bevor sie sich öffnen. Fälle von versehentlichem Schwarzstehen sind damit ausgeschlossen.

Ihren eigentlichen Ursprung, aber auch eine völlig andere Begründung, hatten die Bahnsteigkarten im 19. Jahrhundert. Durchaus sinnvoll und zeitgemäß waren sie damals, sagt Ralf Roth, Professor an der Goethe-Universität Frankfurt. Der Zugang zu den Gleisen wurde reguliert, um unnötiges Gedränge oder gar die Gefährdung der Passagiere zu vermeiden. Auch das Zugpersonal wurde durch Kontrollen am Bahnsteig geschützt, berichtet Nils Freytag, Dozent für Neuere und Neueste Geschichte am Historischen Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität.

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Denn die Züge konnten damals noch nicht so bequem durchschritten werden wie die heutigen Modelle, sodass sich Schaffner schon mal außen an den fahrenden Waggons entlanghangeln mussten, um von einem Abteil ins nächste zu gelangen. Bahnsteigkontrollen stellten da eine sehr viel sichere Alternative dar. Darüberhinaus "besuchten viele Menschen um 1900 noch Bahnhöfe und auch Bahnsteige, um die Architektur und die Züge zu bewundern", erklärt Freytag. Dafür habe das bildungsbürgerliche Publikum dann auch bereitwillig etwas gezahlt.

Belächelt wurden die Bahnsteigkarten allerdings auch schon vor über 100 Jahren. Immer wieder wird in diesem Zusammenhang auf ein Zitat Lenins verwiesen. Im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeit einer Revolution in Deutschland soll er gesagt haben, die Deutschen würden sich vor der Erstürmung eines Bahnsteiges erst noch eine Bahnsteigkarte kaufen.

Eine ganz andere Bedeutung hatte die Absperrung der Gleise und die Bahnsteigkarte laut Professor Roth, der sich viel mit der historischen Rolle des Eisenbahnverkehrs auseinandergesetzt hat, in der späten DDR. "Dort wurden sie immer mehr als eine weitere Gängelmaßnahme des Regimes empfunden", sagt er. Der freie Zugang zum Gleis sei zu einem Stück gelebter Freiheit geworden

Eine Abschaffung der Bahnsteigkarte im heutigen München zu einem symbolischen Schritt zu mehr Freiheit zu stilisieren, ist sicher zu hoch gegriffen. Die Frage jedoch, inwieweit die Stadt mit dem Festhalten an dieser Regelung nach wie vor ganz gut dem Eindruck entspricht, den Lenin bereits im 19. Jahrhundert von "den Deutschen" hatte, könnte durchaus gestellt werden.

© SZ vom 19.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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