Mögliche Bundesregierung:Was die große Koalition der Mittelschicht bringen würde

Horst Seehofer, Angela Merkel und Martin Schulz bei der Vorstellung ihrer Gesprächsergebnisse.

Horst Seehofer, Angela Merkel und Martin Schulz bei der Vorstellung ihrer Verhandlungsergebnisse.

(Foto: Getty Images)
  • Berechnungen zeigen: Auch Menschen mit kleinem Einkommen wären Gewinner einer neuen Groko.
  • Auf Basis der aktuellen Sondierungsbeschlüsse hätten typische SPD- und Unionswähler jährlich knapp 400 Euro mehr.
  • Aufgrund der guten Haushaltslage könnten die Bundesbürger sogar weiter entlastet werden.

Von Cerstin Gammelin, Alexander Hagelüken (Text), Christian Endt und Julia Kraus (Grafiken)

Sie haben vergangenes Jahr ein Haus gebaut, im Vorgarten stehen noch Schubkarren. Endlich mehr Platz für Familie Hieber, Mutter, Vater, Sohn und Tochter. Wer baut, schaut auf jeden Euro. Bei den Hiebers, die in Wahrheit anders heißen, gilt das besonders. Damit das Baugrundstück bezahlbarer wurde, zogen sie in die Provinz, wo es nicht immer für jeden einen Job gibt. Die Mutter pendelt jetzt richtig weit zu ihrem Arbeitsplatz, weshalb sie auf Teilzeit ging und nur die Hälfte verdient.

Kommt in Berlin allerdings eine neue große Koalition zustande, könnten die Hiebers mehr Geld übrig haben. Nach dem Sondierungspapier von Union und SPD hätte die Familie, die brutto 80 000 Euro im Jahr verdient, knapp 1500 Euro mehr in der Tasche (siehe Tabelle). Etwa weil sie mehr Kindergeld bekäme und weniger Solidaritätszuschlag zahlen müsste.

Es gibt da ein großes Wenn: Erst muss der SPD-Parteitag an diesem Sonntag Koalitionsgesprächen zustimmen. Dabei geht es für alle Bürger auch um Geld. Falls am Ende nicht SPD und Union die neue Regierung bilden, sondern andere Parteien, profitieren Mittelschicht-Familien wie die Hiebers womöglich weniger. Und zum Beispiel Spitzenverdiener in einer Regierung mit der FDP wohl stärker.

Ein Forscherteam vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) und dem Institut für die Zukunft der Arbeit (IZA) berechnete für die Süddeutsche Zeitung, was zentrale Vorschläge der Sondierungen finanziell für alle deutschen Haushalte bedeuten. Einige Erkenntnisse sind überraschend. Sie bestätigen nicht nur, dass eine große Koalition (Groko) Menschen mit kleinem Einkommen überdurchschnittlich viel bringen würde, also der klassischen SPD-Klientel. Die Rechnungen zeigen, dass auch die Mittelschicht, um deren Stimmen SPD und Union gleichermaßen buhlen, besonders stark profitiert. Das gilt gerade im Vergleich zu Topverdienern mit mehr als 150 000 Euro im Jahr. Und das Ergebnis wäre ganz anders, würde eine Jamaika-Regierung mit der FDP den Soli gleichzeitig für alle abschaffen - denn das würde Topverdiener besonders stark entlasten.

Was die Bürger insgesamt von einer neuen Groko hätten, können ZEW und IZA natürlich nicht ausrechnen. Denn viele Sondierungsvorschläge sind entweder noch nicht konkret beziffert - etwa niedrigere Kita-Gebühren. Oder ihre Vorteile für den Einzelnen lassen sich nicht monetär bemessen, wie schnelleres Internet oder mehr Sozialwohnungen.

Interessante Einblicke liefern die Forscher aber in jedem Fall. Und das nicht nur in Bezug auf Wählergruppen wie die Mittelschicht oder Familien, die beide Gewinner wären. Die Rechnungen zeigen, dass ein typischer SPD-Wähler-Haushalt im Schnitt 370 Euro mehr im Jahr in der Kasse hätte, falls die Sondierungspläne von SPD und Union tatsächlich umgesetzt werden. Im Verhältnis zu seinem Einkommen bekommt der typische SPD-Wähler prozentual genauso viel mehr wie Unions-Sympathisanten, die durchschnittlich etwas mehr verdienen (und absolut fast 400 Euro verbuchen können). Aus dieser Perspektive gesehen, ist das Sondierungsergebnis ein fairer Deal.

Union und SPD hätten das Geld, um breiten Schichten noch mehr zu helfen

Die SPD kann sich zugutehalten, dass Menschen mit niedrigen Löhnen, um die sie sich traditionell bemüht, besonders gut gestellt würden. So hätte ein Alleinstehender, der etwas über 20 000 Euro brutto im Jahr verdient, künftig 226 Euro mehr in der Tasche. Das sind nur 50 Euro weniger als ein Gutverdiener, der mit 120 000 Euro fast sechs Mal so viel verdient . Arbeitnehmer mit niedrigen Löhnen haben überproportional hohe Abzüge durch Sozialabgaben, weshalb sie von niedrigeren Arbeitslosenbeiträgen stark profitieren. Alleinerziehende mit einem Kind hätten sogar absolut in Euro mehr vom Sondierungspapier als Vergleichspersonen mit 120 000 Euro im Jahr; hier wirkt sich der verbesserte Kinderzuschlag für Geringverdiener aus.

Bisher in die Öffentlichkeit kaum vorgedrungen ist, dass auch die Mittelschicht besonders gestärkt würde. Sie ist nach verschiedenen Studien in den vergangenen Jahrzehnten geschrumpft, was Sorgen über die gesellschaftliche Balance in der Bundesrepublik ausgelöst hat. "Vom Gesamtpaket dürfte vor allem die Mitte profitieren", sagt IZA-Forscher Holger Bonin. Zur Mittelschicht zählen Forscher Singles mit 30 000 bis knapp 100 000 Euro im Jahr, bei Familien wird ein höheres Einkommen angesetzt. Angehörige der Mittelschicht werden im Verhältnis zum Einkommen prozentual am stärksten entlastet. Das gilt gerade im Vergleich zu Spitzenverdiener-Haushalten mit über 150 000 Euro im Jahr (siehe Grafik).

Besonders stark profitieren auch Familien mit Kindern, sowohl Union als auch SPD hatten sich dafür stark gemacht. Ergebnis: Haushalte ohne Kind werden im Schnitt um knapp 300 Euro entlastet, Alleinerziehende um mehr als 500 Euro - und Paare mit Kindern um mehr als 1000 Euro. Ab vier Kindern sind es 1400 Euro.

Forscher Bonin übt Kritik am Vorgehen, den Soli für 90 Prozent der Zahler zu streichen, statt die Einkommensteuer zu senken. "Zur Erreichung verteilungspolitischer Ziele ist der Soli ungeeignet. Wenn man über den Steuertarif geht, hätte man auch mehr Möglichkeiten, die Geringverdiener steuerlich zu entlasten und der kalten Progression entgegen zu arbeiten, die durch die Inflation die Löhne reduziert." Durch die Soli-Operation müssten viele Mittelschicht-Familien mit etwa 70 000 Euro Jahresbrutto bereits für einen Teil ihres Einkommens 50 Prozent Steuern zahlen, kritisiert Holger Stichnoth vom ZEW.

Die Wirtschaft wird wohl weiter wachsen

Die Frage ist natürlich: Könnten SPD und Union die Bürger auch anders entlasten? Wie viel Geld steht einer künftigen Regierung eigentlich zur Verfügung, um strukturell Änderungen im Steuertarif durchzuziehen? Fakt ist, dass es bis 2021 einen zusätzlichen Spielraum gibt, der so groß ist wie nie zuvor in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik, insbesondere durch eine nicht verbrauchte Flüchtlingsrücklage sowie zusätzlichen Steuereinnahmen. Rund 46 Milliarden Euro haben Union und SPD an zusätzlichen Ausgaben für Projekte eingeplant. Darüber hinaus gibt es Maßnahmen, die ausgeführt werden, wenn die Wirtschaft noch besser wächst. Dabei gilt, dass die künftige Bundesregierung auf die Aufnahme zusätzlicher Kredite verzichten will. Die Schwarze Null, also der ausgeglichene Haushalt, soll beibehalten werden.

Dass der finanzielle Spielraum so groß ist, liegt an der anhaltend guten Konjunktur, an niedrigen Rohstoffpreisen und der expansiven Geldpolitik. Noch nie nach der Wiedervereinigung waren so viele Menschen in Beschäftigung. Weil immer mehr Arbeitnehmer Einkommensteuer zahlen sowie Sozialversicherungsbeiträge, sind die Kassen gut gefüllt. So gut, dass sowohl Bund und Länder als auch Sozialversicherungen Überschüsse erwirtschaften. Das Geld soll nun teilweise zurückgegeben werden. Für die kommenden vier Jahre deuten die wichtigsten Indikatoren darauf hin, dass die Wirtschaft weiter wächst und das Beschäftigungshoch anhält.

Das heißt aber auch: Es wäre eigentlich mehr Geld da, um die Bundesbürger zu entlasten. Durch eine breitere Senkung von Steuern und Abgaben gerade für die Mittelschicht und Geringverdiener. So, wie es Union und SPD im Wahlkampf eigentlich versprochen hatten.

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