Mittelmeer:Libyer flüchten jetzt selbst

Migranten aus dem Mittelmeer geborgen

Gekenterte Flüchtlinge, die vergangenes Wochenende vom Schiff Aquarius gerettet worden sind.

(Foto: Laurin Schmid/dpa)
  • Helfer registrieren schnell ansteigende Flüchtlingszahlen auf der Mittelmeeroute zwischen Libyen und Sizilien.
  • Unter den Geflüchteten sind auch vermehrt Menschen aus Libyen selbst.
  • Schwere Zwischenfälle und Anschläge in dem umkämpften Land bringen die Menschen dazu, die gefährliche Flucht auf sich zu nehmen.

Von Oliver Meiler, Rom und Paul-Anton Krüger, Kairo

Die dramatischen Bilder und Geschichten sind zurück. Plötzlich, über Nacht. Gerade als sich in Italien die Vorstellung breitgemacht hatte, dass die gefährliche Fluchtroute durch das zentrale Mittelmeer, von Libyen nach Sizilien, nachhaltig stillgelegt worden sei, abgeriegelt mit einem kontroversen Deal zwischen Rom und Tripolis, da wird sie wieder rege befahren. Mitten im Winter, bei rauer See.

Allein am Wochenende mussten mehr als 800 Flüchtlinge aus Seenot gerettet werden. Bei einem der überfüllten Gummiboote war die Hälfte der Luft schon entwichen, Dutzende Menschen klammerten sich an den sinkenden Schlauch, als die Aquarius sich ihnen näherte. So heißt das Schiff der Hilfsorganisation SOS Méditerranée, das in den internationalen Gewässern vor Libyen kreuzte. Die Helfer berichteten von dramatischen Szenen: von stark unterkühlten Kleinkindern am Ende ihrer Kräfte, von Menschen mit Brandwunden und Vergiftungen durch ausgelaufenes Motoröl. Drei Frauen konnten nur tot geborgen werden, 30 Passagiere wurden noch vermisst.

Allein in den ersten 26 Tagen des Monats haben es 2730 Flüchtlinge bis nach Italien geschafft

Die Fluchtzahlen steigen so unvermittelt und drastisch, wie sie im vergangenen Juni zu sinken begonnen hatten - ebenfalls über Nacht. Das italienische Innenministerium, das jede Ankunft registriert und die Statistiken regelmäßig veröffentlicht, berichtet für die ersten 26 Tage des laufenden Monats von 2730 Neuankömmlingen. Rechnet man die 800 Flüchtlinge vom Wochenende dazu, dann liegen die Zahlen bereits deutlich über jenen von Januar 2017 und von Januar 2016. Davor hatte die Kurve während sechs Monaten stetig und steil nach unten gezeigt.

Neuerdings kommen auch wieder Flüchtlinge nach Italien, die in der Türkei und in Tunesien ablegen. Die allermeisten aber besteigen die Boote ihrer Schlepper in den Hafenstädten im Westen von Tripolis. Benutzten in den vergangenen Jahren vor allem Menschen aus Westafrika diese Route, kommen jetzt vor allem Flüchtlinge aus Eritrea, Pakistan, Tunesien und erstmals auch eine stattliche Zahl von Libyern. Insgesamt zählten die Italiener im Januar 192 Libyer. Von allen Nationalitäten ist die libysche nun am viertstärksten vertreten unter den Flüchtlingen.

Es gibt politische Gründe für diesen Drang, das Land zu verlassen. In Libyen begann das neue Jahr mit schweren Zwischenfällen in Tripolis und Bengasi, den beiden größten Städten. In der Hauptstadt, nominell unter Kontrolle der international anerkannten Einheitsregierung von Premier Fayez Serraj, lieferten sich am 15. Januar rivalisierende Milizen schwere Gefechte um den Flughafen Mitiga, nachdem Angreifer aus dem Vorort Tajoura versucht hatten, Häftlinge aus einem nahegelegenen Hochsicherheitsgefängnis zu befreien. Mindestens 20 Menschen kamen bei den Kämpfen ums Leben. Die Situation ist seither gespannt, aber ruhig, wie ein Gewährsmann dort sagte.

Doppelanschlag in Bengasi

In Bengasi wurden vergangene Woche bei einem Doppelanschlag mit zwei Autobomben auf eine Moschee mindestens 35 Menschen getötet. Seither sind in der Stadt und im 250 Kilometer entfernten Derna mindestens acht Leichen von Opfern mutmaßlicher Rachemorde in den Straßen gefunden worden; die Vereinten Nationen zeigten sich besorgt. Teile von Bengasi sind nach mehrjährigen Kämpfen zerstört, die Stadt steht unter der Kontrolle der Libyschen National-Armee des Kriegsherrn Khalifa Haftar, der Unterstützung von den Vereinigten Arabischen Emiraten und Ägypten erhält sowie von Russland und mindestens verdeckt auch von einigen westlichen Staaten.

Er ist der starke Mann im Osten des Landes und hat mehrmals gedroht, Tripolis militärisch unter seine Kontrolle zu bringen. Eine politische Annäherung zwischen Haftar und Serraj, um die sich sowohl die Emirate und Ägypten als auch Italien und Frankreich bemüht haben, zeitigt bislang keine Ergebnisse. Allerdings hat sich Haftar überraschend bereit erklärt, Wahlen zu akzeptieren, die unter der Ägide der UN bis Ende des Jahres abgehalten werden sollen. Ob das gelingt, ist zweifelhaft, fraglich ist auch, ob Wahlen das gespaltene Land einen und eine funktionierende Regierung hervorbringen könnten - denn Haftar könnte antreten. Streit nach den Wahlen 2014 führte zu schweren Kämpfen; sie trugen zur jetzigen Spaltung des Landes bei.

Die wirtschaftliche Situation in Libyen ist nach wie vor schwierig, selbst in den größeren Städten kommt es immer wieder zu Versorgungsschwierigkeiten. Zuletzt erholte sich die Landeswährung Dinar aber deutlich gegenüber dem Dollar, die Öl-Exporte steigen. Dennoch suchen vor allem Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 16 und 25 Jahren ein besseres Leben in Europa. Die italienische Zeitung La Repubblica schreibt, die libyschen Migranten bezahlten für die Flucht mehr als andere Flüchtlinge und würden dafür mit sichereren, schnelleren Booten übersetzen.

Die neue Entwicklung auf der Mittelmeerroute fällt mitten in die Kampagne vor den italienischen Parlamentswahlen am 4. März. Bisher war die Migrationsfrage kaum ein Thema gewesen - ganz zur Genugtuung der regierenden Sozialdemokraten und ihres Innenministers Marco Minniti, Architekt des Deals mit Tripolis. Das könnte sich nun aber schnell ändern.

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