NSU-Prozess:Blick in den deutschen Abgrund

Nach fünf Jahren ist das Erschrecken im NSU-Prozess nicht kleiner geworden, sondern größer. Was bleibt von einem der wichtigsten Verfahren der deutschen Nachkriegsgeschichte? Der NSU-Prozess in der großen SZ-Analyse.

Von Annette Ramelsberger und Wiebke Ramm

Ein Prozess beginnt und die Welt blickt nach München: Im Mai 2013 lief vor dem Oberlandesgericht das Verfahren gegen Beate Zschäpe und vier Mitangeklagte an. Die Gesellschaft stand unter Schock: Jahrelang waren Neonazis mordend durch Deutschland gezogen. Und keiner hatte die Handschrift der Mörder erkannt. Die NSU-Terroristen töteten acht Männer türkischer, einen Mann griechischer Herkunft und eine Polizistin aus Thüringen. Zahlreiche weitere Menschen wurden bei drei Bombenanschlägen und 15 Raubüberfällen zum Teil schwer verletzt.

Nicht durch die Polizei, nicht durch den Verfassungsschutz, erst durch den Tod von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt wurde die Existenz des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU) bekannt.

Die Erwartungen an den Prozess waren groß: Das Gericht sollte nicht nur die Taten und die individuelle Schuld der Angeklagten feststellen, es sollte auch den Opfern das Vertrauen in den Rechtsstaat zurückgeben und das Versagen von Staat und Gesellschaft aufarbeiten.

Kann das ein Strafprozess leisten? Das Ringen um diese Frage währte fünf Jahre. Das Urteil ist mehr als ein Schuldspruch. Es definiert eine ganze Epoche deutscher Geschichte, die 20 schwierigen Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung.

Die Nürnberger Prozesse, die Auschwitzprozesse und die RAF-Prozesse. Sie alle hatten nicht nur juristische Bedeutung, sie haben auch Gesellschaft und Politik in Deutschland beeinflusst.

Bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen von 1945 bis 1949 versuchten die Alliierten, zumindest die bekanntesten Täter des Nazi-Regimes zu verurteilen, darunter Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß und Reichsmarschall Hermann Göring. Zwölf der Angeklagten wurden zum Tod durch den Strang verurteilt, auch Göring, der dann aber Suizid verübte. Drei Angeklagte wurden zu lebenslanger Haft verurteilt, darunter Heß, der bis zu seinem Tod 1987 jahrzehntelang der einzige Gefangene im Kriegsverbrechergefängnis in Berlin-Spandau war, quasi also in Einzelhaft saß. Kritiker warfen den Alliierten deswegen unmenschliche Behandlung des Gefangenen vor. Vier Mal wurden Freiheitsstrafen zwischen zehn und 20 Jahren verhängt. Und es gab drei Freisprüche.

Der amerikanische Chefankläger hoffte damals auf eine "Reinigung der moralischen Atmosphäre" durch die Verfahren. Es gelang nur bedingt. Vor allem an der Behandlung von Heß entzündete sich noch Jahrzehnte später Protest. Bis heute marschiert die rechte Szene zum Heß-Gedenken auf. ("Ein Urteil, das uns und die Welt verpflichtet" - Lesen Sie hier den Text aus der Süddeutschen Zeitung vom 4. Oktober 1946 zum Urteil als pdf)

18 Jahre nach Kriegsende begannen 1963 in Frankfurt am Main die Auschwitzprozesse. 20 Männer waren wegen Beteiligung an der Vernichtung von Juden in den deutschen Konzentrationslagern angeklagt. Am Ende standen: sechsmal Lebenslang, vier Freisprüche, zehn Angeklagte wurden zu Strafen zwischen drei und 14 Jahren Zuchthaus verurteilt. Der damalige hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der die Anklage gegen heftige Widerstände durchgesetzt hatte, hoffte, dass die Gesellschaft sich danach nicht länger loyal zu den Tätern des Nazi-Regimes zeigen könne. Es war der Anfang der Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen.

1975 begann der RAF-Prozess in Stuttgart-Stammheim, der die beklemmende Atmosphäre der Siebziger Jahre einfing. Er endete zwei Jahre später mit der Verurteilung von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe wegen Mordes. Die ebenfalls angeklagte Ulrike Meinhof hatte sich 1976 in ihrer Zelle erhängt. 1977 töteten sich auch die anderen drei in Stammheim, nachdem ihre Freipressung fehlgeschlagen und die Passagiere der hierzu entführten Lufthansa-Maschine Landshut in Mogadischu befreit worden waren. Der Prozess war ein Spiegelbild des erbitterten Kampfes zwischen einem Staat mit verkrusteten Strukturen, zu allem entschlossenen Angeklagten und aggressiven Verteidigern. Hungerstreiks, Beschimpfungen des Gerichts, der Ausschluss der Angeklagten von der Verhandlung prägten das Verfahren. Der RAF-Prozess war Ausdruck der Entfremdung von Staat und Gesellschaft. Es folgten fast 50 Prozesse gegen RAF-Angehörige der zweiten und dritten Generation. 20 Angeklagte wurden zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt, darunter im Jahr 1985 die RAF-Anführer Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar. Das bislang letzte Urteil gegen die RAF erging 2012: Verena Becker wurde wegen Beihilfe zum Mord an Generalbundesanwalt Siegfried Buback verurteilt. 35 Jahre nach der Tat.

Nicht nur die Dauer des Prozesses, auch die Höhe der Kosten stoßen bei vielen Bürgern auf Unverständnis. Nicht bekannt ist allerdings, was die aufwändigen Ermittlungen in all den Jahren gekostet haben, in denen die Neonazis des NSU dennoch unerkannt und ungehindert weiter mordend durch Deutschland ziehen konnten.

Die Bundesanwaltschaft forderte für Zschäpe lebenslange Haft und Sicherungsverwahrung, für Wohlleben und Eminger je zwölf Jahre. Gerlach sollte für fünf Jahre in Haft, Schultze, der als Einziger intensiv bei der Aufklärung geholfen und seine Tat glaubhaft bereut hat, sollte drei Jahre Jugendstrafe verbüßen. Bundesanwaltschaft und Nebenklage waren sich weitgehend einig in der Bewertung der Taten und der Schuld der Angeklagten - mit einer Ausnahme. Viele Opfer baten das Gericht, Carsten Schultze milder zu bestrafen, als es die Bundesanwaltschaft forderte. Ihnen reichte eine Bewährungsstrafe. Obwohl Schultze die Mordwaffe besorgt hat, glauben die Angehörigen der Opfer ihm seine Reue und nehmen seine Entschuldigung an.

Was den Angeklagten vorgeworfen wird: Beate Zschäpe wird vorgeworfen, gemeinsam mit ihren beiden Gefährten Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt die rechtsterroristische Vereinigung NSU gegründet und die Morde an neun Menschen mit ausländischen Wurzeln und einer Polizistin aus Thüringen geplant und gewollt zu haben - um Angst unter Migranten zu säen und sie aus Deutschland zu vertreiben. Obwohl sie nicht selbst geschossen und keinen Sprengsatz gezündet hat, werden Beate Zschäpe sämtliche NSU-Verbrechen als Mittäterin zur Last gelegt. Im Prozess schwieg sie zweieinhalb Jahre lang, dann lieferte sie peu à peu ihre Version der Geschichte, in der sie sich als Opfer der beiden Uwes darstellte, quasi als Geisel des NSU. Von den Morden und Anschlägen will sie immer erst hinterher erfahren haben. Sie behauptete, jedes Mal entsetzt gewesen zu sein. Überzeugen konnte sie mit ihrer Version nicht.

Ralf Wohlleben und Carsten Schultze sollen dem NSU die Mordwaffe Česká CZ 83 besorgt haben. Schultze hat die Beschaffung und Lieferung der Česká gestanden, Wohlleben streitet alles ab. Laut Bundesanwaltschaft haben beide Beihilfe zum Mord in neun Fällen geleistet. Wohlleben, ehemaliger NPD-Funktionär und noch heute überzeugter Neonazi, soll auch die Hilfe weiterer Unterstützer für Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt organisiert haben. Der fünf Jahre jüngere Carsten Schultze ist seit Langem aus der Neonaziszene ausgestiegen. Wohlleben sitzt wie Zschäpe seit November 2011 in Untersuchungshaft, Schultze lebt wegen befürchteter Racheakte seit 2012 bewacht vom Bundeskriminalamt an einem geheimen Ort.

Die Angeklagten Holger Gerlach und André Eminger haben nach allen Erkenntnissen den NSU über Jahre intensiv unterstützt - mit Pässen, Führerscheinen, Krankenversichertenkarten und der Anmietung von Fahrzeugen. Eminger und seine Frau waren bis zuletzt engste Vertraute von Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt. Eminger soll zumindest von einem der geplanten Attentate gewusst haben. Wegen Fluchtgefahr wurde er im September 2017 im Gerichtssaal verhaftet und sitzt seither in Untersuchungshaft. Auf seinen Bauch hat er sich "Die Jew Die", "Stirb, Jude, stirb", tätowieren lassen. Eminger hat als einziger Angeklagter im Prozess konsequent geschwiegen. Bis zu seiner Verhaftung im Herbst 2017 war er auf freiem Fuß und kam morgens immer Kaffee trinkend zum Gericht. Oft schlenderte er provozierend nah an den Angehörigen der Opfer vorbei und ging auf Pegida-Demonstrationen in München. Holger Gerlach ist weiter auf freiem Fuß und reist zu jedem Verhandlungstag aus Hannover an.

Reihenweise traten Freunde und alte Kameraden von Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos vor Gericht so dreist wie selbstbewusst auf. Sie nannten den Prozess "Affentheater", litten an ausgeprägtem Gedächtnisverlust und sagten dem Richter ins Gesicht, dass ihre "Werteordnung" es ihnen verbiete, gegen ihre Freunde auszusagen. Es kamen Nachbarn, die ihre politische Gesinnung als "normal" bezeichneten und nichts dabei fanden, mit Zschäpe im Partykeller unterm Hitler-Bild zu zechen. Das Bild gehörte dem Nachbarn, nicht Zschäpe. Es kamen Männer, die am Rande des Prozesses Journalisten damit drohten, man kenne ihre Adresse. Und es sagten Zeuginnen aus, die taten, als wenn es sich bei der verbotenen gewaltbereiten Blood & Honour-Organisation um ein freundliches Familientreffen mit gemeinsamem Gesang gehandelt hätte.

Der Prozess zeigte, dass die rechtsradikale Szene sich mittlerweile ein bürgerliches Mäntelchen umgehängt hat, unter dem sie ihre extremen Ansichten weiter pflegt. Und er warf ein Schlaglicht auf die Ermittler und Verfassungsschützer, die diese Szene in Schach halten sollen - und es nicht tun. Reihenweise zeigten sich vor Gericht selbstgerechte V-Mann-Führer, die erklärten, man habe die Szene "gut im Griff gehabt". Es sind dieselben Leute, die 200 000 Mark allein an einen V-Mann gezahlt haben, der die Szene rund um Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos mit Staatsgeld hochpäppelte. Das NSU-Trio war von rund 40 Spitzeln umstellt, die aber entweder nichts an die Behörden berichteten oder deren Berichte in den Ämtern versandeten. Es zeigte sich auch, wie stark der Blick der Polizei von rassistischen Vorurteilen verstellt ist: Man ermittelte nach den Morden in Richtung Rauschgifthandel, Schutzgelderpressung, Familienfehden - alles, was man Ausländern zutraute. In Richtung rechtsradikaler Attentäter ermittelte man nicht. Das erschien unvorstellbar.

Das Gericht sah das nicht als seine zentrale Aufgabe an, obwohl es immer wieder intensiv nachfragte, wenn Zeugen aus den Verfassungsschutzämtern auftraten. Deshalb starteten schon 2012 im Bundestag und in den Landtagen von Thüringen, Sachsen und Bayern die ersten Untersuchungsausschüsse, Hessen, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen folgten 2014, Brandenburg 2016. Hamburg, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern haben sich trotz NSU-Bezügen bislang zu keinem Untersuchungsausschuss durchgerungen.

In den Untersuchungsausschüssen wurden schwere Versäumnisse der Ermittlungsbehörden und des Verfassungsschutzes festgestellt, im Umgang mit V-Leuten, bei der Fahndung nach Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt und bei den Ermittlungen zu den NSU-Verbrechen.

Das Fazit der Parlamente: Die drei untergetauchten Rechtsextremisten hätten gefunden werden können, wäre den Hinweisen auf sie entschieden genug nachgegangen worden. Der besonders gründliche und hartnäckige Ausschuss in Thüringen hat sich in akribischer Detailarbeit auch mehreren Verschwörungstheorien gewidmet, die rund um den NSU kursieren. Eindeutig widerlegt ist: Mundlos und Böhnhardt wurden nicht - wie von manchen geraunt - von einem unbekannten Dritten ermordet, sondern haben sich tatsächlich selbst in ihrem Wohnmobil getötet, als sie von der Polizei umstellt waren.

Zudem verübte der NSU drei Sprengstoffanschläge.

In Nürnberg stellten die Täter 1999 eine mit Sprengstoff präparierte Taschenlampe in einer von Türken geführten Gaststätte ab. Ein Mitarbeiter wurde verletzt.

In der Kölner Probsteigasse stellten die Täter kurz vor Weihnachten 2000 eine mit Sprengstoff gefüllte Christstollendose in einem Lebensmittelladen ab, der von einer iranischstämmigen Familie geführt wurde. Der Täter wollte nur noch kurz seine Geldbörse holen, die er angeblich vergessen hatte. Als die 19 Jahre alte Tochter am 19. Januar 2001, drei Wochen später, die immer noch auf den Besitzer wartende Dose öffnete, explodierte die Bombe. Die junge Frau wurde lebensgefährlich verletzt.

Am 9. Juni 2004 stellten die NSU-Täter Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt ein mit einer Nagelbombe bestücktes Fahrrad in der vor allem von Türken bewohnten Keupstraße in Köln ab und zündeten den Sprengsatz. Dabei wurde ein Dutzend Menschen schwer verletzt, viele erlitten einen Schock.

Bei 15 Raubüberfällen zwischen Stralsund und Eisenach wandten die Täter ebenfalls brutale Gewalt an und verletzten zahlreiche Menschen schwer. Einer schwangeren Frau zertrümmerten sie ein Tischtelefon auf dem Kopf, einem jungen Mann schossen sie in den Bauch.

Beate Zschäpe könnte die Fragen vermutlich beantworten. Doch sie tut es nicht. Sie weigerte sich sogar, überhaupt auf die Fragen der Nebenkläger einzugehen. Unklar ist auch, ob die Ermittlungen gegen neun weitere mutmaßliche Unterstützer zu neuen Anklagen und neuen NSU-Prozessen führen werden. Die Opfer und ihre Anwälte sind skeptisch. Sie fürchten, dass die Bundesanwaltschaft das Thema NSU mit dem Ende des Münchner NSU-Prozesses abschließen will. Dann aber, so sehen es die Familien, hätte Bundeskanzlerin Angela Merkel ihr Versprechen gebrochen. Ein Versprechen, das sie 2012 feierlich den Opfern gab: "Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen."

Hinweis: Dieser Text entstand vor der Urteilsverkündung, die wie folg ausfiel:

  • Beate Zschäpe wurde wegen zehnfachen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt, zudem wurde die besondere Schwere der Schuld festgestellt.
  • Ralf Wohlleben bekam zehn Jahre Haft - für das Beschaffen der Mordwaffe wurde er wegen Beihilfe zum Mord verurteilt.
  • Auch André Eminger, Holger Gerlach und Carsten Schultze erhielten Haftstrafen - Eminger allerdings deutlich niedriger als von der Staatsanwaltschaft gefordert.

Digitale Umsetzung: Katharina Brunner, Maria Sprenger, Martina Schories

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: