Städtereise-Serie "Bild einer Stadt":Wie tickt ... Tokio?

Städtereise-Serie "Bild einer Stadt": Eine Metropole wie ein Bühnenbild - Der Tokyo Tower, ein Fernsehturm im Stadtbezirk Minato, wurde 1958 nach dem Vorbild des Pariser Eiffelturms erbaut.

Eine Metropole wie ein Bühnenbild - Der Tokyo Tower, ein Fernsehturm im Stadtbezirk Minato, wurde 1958 nach dem Vorbild des Pariser Eiffelturms erbaut.

(Foto: Louie Martinez/Unsplash; Illustration Jessy Asmus)

In Tokio spielen alle Theater, die soziale Kontrolle ist stark. Nur einmal am Tag dürfen die Einwohner aus der Rolle fallen. Tipps für eine Stadt, die sich als perfekte Metropole inszeniert, in der SZ-Korrespondenten-Serie.

Von Christoph Neidhart

Eine Stadt zu bereisen, bedeutet nicht nur Sehenswürdigkeiten abzuklappern. Sondern einen Blick in ihre Seele zu werfen - und dabei schöne Orte kennenzulernen, die auch Einheimische lieben. Wir haben unsere SZ-Kollegen in fernen Metropolen gebeten, "ihre" Stadt anhand eines Fragebogens zu präsentieren. Diesmal erklärt Christoph Neidhart, wieso man in Tokio immer auf einer Bühne steht.

Was ist das Besondere an Tokio?

Tokio ist die absolute Inszenierung einer Metropole. Ein Theater, in dem jeder seine Rollen spielt, und das möglichst perfekt. Dazu gehört auch die legendäre Höflichkeit. Die Japaner unterscheiden zwischen "Honne" und "Tatemae". Honne ist das wahre Selbst, das sie nie zeigen, Tatemae das jeweilige Gesicht nach außen: Für fast jede Situation gibt es bestimmte Rollen - und in der Anonymität der Großstadt ist kaum eine Rolle zu verrückt, solange sie auf der passenden Bühne gespielt wird. Die Tokioter surfen ständig von Bühne zu Bühne. Jeder für sich, aber alle in der Masse. So spielt eine junge Frau an ihrem Arbeitsplatz zum Beispiel den makellosen, stets lächelnden Büro-Engel. Sie spricht mit zu hoher Stimme, kocht den Männern Tee und gibt ihnen recht. Am Wochenende verwandelt sie sich in eine Cosplay-Göre oder ein Baseball-Groupie. Und sollte sie sich ins Nachtleben stürzen, dann vorbehaltlos.

Tokio ist aber auch ein Meer dörflicher Wohnviertel, fast die Hälfte der Tokioter lebt noch in winzigen Einfamilienhäuschen. Dort wissen die Leute ganz genau, was die Nachbarn tun. Sie sagen nichts, sie lächeln nur - aber das vielsagend. Zur sozialen Kontrolle genügt das.

Wie genau ticken die Einwohner?

Die Tokioter haben nie Zeit. Sie sagen nicht, was sie wollen. Und schon gar nicht, was sie nicht wollen, das gehört sich nicht. Man soll bitte zwischen ihren Zeilen lesen oder die Zeichen deuten. Das finden nicht nur Europäer, sondern auch Japaner umständlich. Daher sind viele Tokioter zwar selten allein, aber oft einsam. Dagegen helfen käufliche Streicheleinheiten: vom Katzenkaffee bis zu den professionellen Hochzeitsgästen, die man mieten kann. Konsum ist Glück ohne soziale Verpflichtung.

Wie kommt man am besten mit ihnen in Kontakt - und wo?

Am besten gar nicht. Die Japaner wollen niemandem zur Last fallen, niemanden stören - aber auch nicht gestört werden. Spricht man sie an, bringt man sie damit in Verlegenheit und reißt sie leicht aus ihrer momentanen Rolle. Wer trotzdem Leute kennenlernen möchte, besonders Damen jeden Alters, leiht sich ein Kleinkind von Freunden und geht mit ihm spazieren oder U-Bahnfahren. Ist das Kind auch noch blond, wird man ständig angelächelt und angesprochen. Ansonsten: online.

Wohin gehen Einheimische?

  • Zum Frühstücken: Wer überhaupt Zeit und Muße für ein Frühstück und das nötige Kleingeld hat, geht im Fashion-Viertel "Omotesando" in eines der "westlichen" Frühstückscafes. Im Moment angesagt: "A Happy Pancake".
  • Zum Mittagessen: Wer von zuhause für die Schule oder fürs Büro kein "Bento" mitbekommt und sich keine solche Lunchbox kauft, geht in ein Nudellokal um die Ecke; japanische Nudeln, Soba, Udon, Somen, Ramen, sind Leckerbissen. Und billig.
  • Nach Feierabend: Viele Berufstätige müssen mit ihren Kollegen in die Kneipe, wo sie stundenlang Häppchen essen und viel trinken. Das nennt man "Nomunication", nach dem Verb "nomu", trinken. Wer betrunken ist, darf aus seiner Rolle fallen und sagen, was er denkt, es wird ihm später nicht nachgetragen. Eigentlich mögen viele Japaner "Nomunication" nicht, aber sie müssen mitmachen. Zumal es die einzige Form der Kommunikation ist, in der sie offen reden können. Irgendwann gelten alle als "betrunken", auch wenn sie noch gar keinen Alkohol getrunken haben.

Tokio geht um Mitternacht schlafen. Es gibt keine Nachtbusse, die letzten U- und S-Bahnzüge fahren etwa um 12 Uhr und sind hoffnungslos überfüllt. Natürlich gibt es Nacht-Bars, im schicken Viertel Roppongi, das bei Tokios Ausländern beliebt ist. Und im Rotlichtviertel Kabukicho. Aber wer nach Mitternacht noch unterwegs ist, muss bis zum ersten Zug weitermachen.

Was finden die Menschen in Tokio gar nicht komisch?

Sich die Nase zu schnäuzen, ist absolut tabu. Aber auch Japaner erkälten sich, im Winter zieht in der Metro deshalb immer jemand seinen Rotz geräuschvoll hoch. Das geht. Selbst im überfüllten Zug hört man das durch den ganzen Wagen, weil auch Reden in der Bahn (oder im Lift) tabu ist. Falls Sie gar nicht warten können: Flüstern Sie!

Und wofür werden sie den Urlauber aus Deutschland lieben?

Zuerst: Dass sie keine Japaner sind. Wenn Japaner mit Ausländern ins ernsthafte Gespräch kommen, empfinden sie dies als befreiend. Sie können aus ihrer Rolle schlüpfen, müssen sich nicht an die Hierarchie halten, in die ihre Sprache sie bei jedem Gespräch zwingt. Und auch nicht an die soziale Choreographie.

Ansonsten: Japaner denken in Kategorien. Von Deutschen erwarten sie, dass sie mit ihnen von den Brüdern Grimm oder Beethoven, von der Bundesliga oder der deutschen Ingenieurskunst schwärmen können. Und Eure Frau Merkel, sagen sie, macht das schon sehr gut.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: