"Wunder" im Kino:Wie viel Normalität kann es für ein entstelltes Kind geben?

Die Verfilmung des Bestseller-Romans "Wunder" beschwört eine Form der Solidarität, wie es sie nur in Amerika gibt.

Von Fritz Göttler

Zum Countdown muss Auggie Pullman seinen Helm abnehmen, die Strecke durch den Schulhof und dann zu seinem Pult im Klassenzimmer geht er mit kleinen, unsicheren Schritten, durch die anderen Schüler hindurch. Er ist zehn, und soll nun zum ersten Mal in eine Schule, fünfte Klasse. Bis dahin hat seine Mutter ihn zu Hause unterrichtet, hat Auggie sich meistens im Schutz seines Weltraumhelms unter den Menschen bewegt, der ihn unsichtbar machte. Sein Gesicht verbarg. Ein Major Tom, der sich in seinen ganz eigenen Weltraum zurückzog.

Auggie hat eine kraniofaziale Fehlbildung, durch die Mutation eines Gens sind seine Gesichtsknochen deformiert. 27 Operationen hat er hinter sich, damit er atmen kann und sehen und hören ohne Hörgerät, aber die verzerrten Gesichtszüge sind nicht zu korrigieren. Der Film hat das, im Vergleich zum Buch, gehörig abgemildert, Jacob Tremblay hat als Auggie eine Art blatternnarbiges Gesicht.

Der Roman von R. J. Palacio, ihr erster, war ein riesiger internationaler Erfolg. Er beschwört eine Form der Solidarität, wie es sie nur in Amerika gibt, dem melting pot der Völker und Religionen, der Gesellschaft ohne ein definitives Zentrum, auf das die Vorstellungen und Ambitionen und das Handeln ausgerichtet wären. Eine Gesellschaft, in der das Sehen, das zweite und Neusehen, entscheidend ist. Beim Originaltitel "Wonder" spielt das Staunen, das Hinterfragen, die Überraschung stärker mit als beim deutschen "Wunder", das vor allem den mirakulösen Effekt beschwört. Die Präsenz des Blicks testen Auggie und ein Freund, als sie im Rahmen einer "Jugend forscht"-Aktion eine große alte Camera obscura bauen.

Julia Roberts' Übergang ins Mutter-Repertoire

Die Atmosphäre von Normalität, die die Eltern und die Schwester, die Lehrer und später auch diverse Schulkameraden um Auggie aufbauen, geht an die Grenze zum Pathetischen, aber nach einer halben Stunde verschieben Roman und Film die Perspektive, plötzlich rückt Auggies Schwester Via in den Mittelpunkt, gespielt von der stillen, angenehm spröden Izabela Vidovic. Via ist ebenfalls einsam, weil die Aufmerksamkeit in der Familie sich immer auf Auggie richtet. Julia Roberts bewältigt den Übergang ins Mutter-Repertoire mit der gleichen Selbstverständlichkeit und Eleganz, mit der das im klassischen Hollywood Joan Bennett oder Myrna Loy gelang. Dass Auggie sich nun stärker nach draußen orientiert, verschafft auch ihr Freiheit, neue Unabhängigkeit.

Ein Wunder ist Owen Wilson als Vater, der dunkle Business-Anzug steht ihm wirklich gut, aber dann blitzt doch immer wieder die alte "Zoolander"-Großspurigkeit durch. Einmal, als Auggie von einer harten Prügelei mit einem Kameraden zurückkommt, versucht er mit Roberts natürlich, Auggie die Verwerflichkeit seines Tuns deutlich zu machen. Aber in einem kurzen Moment. den beide für sich haben, rutscht ihm ein impulsives "Hast du wenigstens gewonnen!?" heraus.

Wonder, USA 2917 - Regie: Stephen Chbosky. Buch: St. Chbosky, Steven Conrad, Jack Thorne. Nach dem Roman von R. J. Palacio. Kamera: Don Burgess. Schnitt: Mark Livolski. Musik: Marcelo Zarvos. Mit: Julia Roberts, Jacob Tremblay, Owen Wilson, Izabela Vidovic, Mandy Patinkin, Daveed Diggs, Sonja Braga. Studiocanal, 113 Minuten.

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