Außenansicht:Neue Weltordnung

Außenansicht: James Bindenagel, 68, ist amerikanischer Politikwissenschaftler und ehemaliger Diplomat. Ende der Neunzigerjahre leitete er die US-Botschaft in Deutschland. Heute ist er Henry-Kissinger-Professor in Bonn.

James Bindenagel, 68, ist amerikanischer Politikwissenschaftler und ehemaliger Diplomat. Ende der Neunzigerjahre leitete er die US-Botschaft in Deutschland. Heute ist er Henry-Kissinger-Professor in Bonn.

(Foto: A. Archut/Uni Bonn)

Die USA haben ihre Führungsrolle abgegeben, nun muss Deutschland mehr Verantwortung tragen.

Von James Bindenagel

Deutschland ist die größte Hoffnung, wenn es um die Verteidigung der liberalen Weltordnung geht - ob das Land die Führungsrolle übernehmen will oder nicht. Die globale Macht verschiebt sich gerade: Durch den wachsenden Nationalismus in China und Russland löst sich die internationale Ordnung auf. Nachdem Russland die ukrainische Halbinsel Krim annektiert hatte, verhängte Europa Sanktionen gegen das Land. Der neu gewählte amerikanische Präsident wiederum stellte die Verteidigungspflicht der USA gegenüber Europa infrage. Mit seiner nationalistischen Politik gibt Donald Trump die Führungsrolle Amerikas in internationalen Angelegenheiten ab.

Die Menschen haben das längst erkannt: 88 Prozent der Deutschen glauben, dass in der Verteidigungspolitik künftig die Partnerschaft mit anderen europäischen Staaten vor der Partnerschaft mit den USA Vorrang haben sollte, zeigt eine Umfrage der Körber Stiftung. Und einer Studie von Gallup zufolge befürworten 41 Prozent der Befragten eine globale Führungsrolle Deutschlands, womit die Vereinigten Staaten mit einer Zustimmung von nur 30 Prozent erstmals in den Schatten gestellt werden. Deutschlands neues internationales Standing stellt eine historische Verschiebung der Machtverhältnisse dar.

Der Umbruch wirft die Frage auf, wie eine neue Weltordnung aussehen und wer darin die Führungsrolle übernehmen könnte. Nachdem die Demokratie mit der gescheiterten Revolution von 1848 eine Niederlage erlitten hatte, vereinte Otto von Bismarck Deutschland mit "Blut und Eisen". Von 1871 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs dominierte der Militarismus die deutsche Sicherheitspolitik. Nach dem Niedergang des Nationalsozialismus 1945 ist Deutschland in den vergangenen siebzig Jahren von den Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust zu einer Zivilmacht aufgestiegen, zu Europas führender Demokratie. Bleibt die Frage, ob nach dieser historischen Verschiebung von einem Extrem zum anderen jetzt die Balance zwischen Krieg und Frieden gefunden werden kann.

Die Debatte darüber begann 2014 auf der Münchner Sicherheitskonferenz, als der damalige Bundespräsident Gauck, der damalige Außenminister Steinmeier und Verteidigungsministerin von der Leyen Deutschland dazu aufriefen, international mehr Verantwortung zu übernehmen. Inzwischen wurde ein neues Weißbuch vorgelegt, das ein proaktiveres Handeln Deutschlands beschreibt. Bundeskanzlerin Merkel betonte: "Wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in unsere eigene Hand nehmen." Und Außenminister Gabriel sagte: "Entweder wir versuchen selbst in dieser Welt zu gestalten oder wir werden vom Rest der Welt gestaltet." Deutschland hat zögerlich zugestimmt, mehr Verantwortung zu tragen, und ist bereit, eine Führungsrolle in Europa zu übernehmen.

Im Ausland fürchtet man weniger deutsche Macht als deutsche Untätigkeit

Jürgen Habermas hat uns an unsere Aufgabe, die Demokratie zu verteidigen, erinnert, als er sagte: "Wenn das europäische Projekt scheitert, dann ist die Frage, wie lange es dauert, bis es den Status quo wieder erreicht. Man denke an die deutsche Revolution von 1848: Nachdem sie scheiterte, brauchten wir 100 Jahre, um wieder das damalige Niveau von Demokratie zu erreichen."

Drei wesentliche Punkte sind dabei zu beachten: Erstens hat es in Deutschland noch eine weitere Revolution gegeben. Mutig brachten die Menschen in Ostdeutschland 1989 die Mauer zu Fall, mutig wählten sie ein demokratisches Parlament und mutig stimmten sie dafür, die westdeutsche Verfassung zu übernehmen. Im Westen hatte das Grundgesetz eine Demokratie geschaffen, die auf dem Respekt der Menschenwürde basiert. Im Osten kämpfte eine friedliche Revolution in einem Akt von nationaler Selbstbestimmung für Freiheit und Demokratie, um Deutschland 1990 wiederzuvereinigen. Die Legitimation der Republik liegt also in der Verbindung von westdeutscher Verfassung und ostdeutscher Revolution, durch die das vereinigte Deutschland entstanden ist.

Zweitens hat sich Deutschland verpflichtet, Hoheitsrechte in der Europäischen Union zu bündeln und die Bundeswehr nur in einer Allianz mit den Vereinten Nationen oder der Nato und mit parlamentarischem Mandat einzusetzen. Es hat einen deutschen Sonderweg oder Alleingang, der in der Vergangenheit zu Konflikten führte, abgelehnt und stattdessen ein Modell entwickelt, das eine alleinige Führung ausschließt; es geht vielmehr darum "als Partner zu führen".

Drittens verbietet die deutsche Erinnerungskultur, welche die Gräueltaten des Holocaust nicht in Vergessenheit geraten lässt, ein Übermaß an deutscher Führung. Gleichzeitig übernimmt Deutschland aber auch mehr Verantwortung. Wie der damalige polnische Außenminister Radosław Sikorski 2011 in einer Rede den Deutschen sagte: "Ich verlange von Deutschland zu seinem eigenen und zu unserem Besten, dass es der Euro-Zone zum Überleben und Gedeihen verhilft. Sie wissen genau, dass kein anderer das kann. Ich bin vermutlich der erste polnische Außenminister der Geschichte, der so etwas sagt, aber es ist so: Ich fürchte die deutsche Macht weniger, als ich beginne, die deutsche Untätigkeit zu fürchten. Sie sind Europas unverzichtbare Nation geworden."

Deutschland ist nun aufgefordert, Europa zu führen. Damit dies gelingt, benötigt das Land eine mutige, strategische Vision, um Demokratie, Frieden und Wohlstand in Europa zu erhalten. Deutschland braucht jetzt eine nationale Sicherheitspolitik, die eine europäische Sicherheitspolitik unterstützt. Um dieses Ziel zu erreichen, muss es eine doppelte Taktik verfolgen. Es muss erstens die Inkohärenzen in der Sicherheitspolitik zwischen den politischen Eliten und der breiten Öffentlichkeit überwinden. Und es muss zweitens ein nationales institutionelles Forum schaffen, das die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik zwischen den zuständigen Ministerien koordiniert und Strategien für die Zukunft entwickelt. Eine solche Politik lässt sich gut mit europäischen Sicherheitsinitiativen verknüpfen, etwa mit dem Europäischen Verteidigungsfonds und mit der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (SSZ). Mehr Europa stärkt die transatlantische Allianz.

Kann Deutschland Europa führen, ohne es zu dominieren? Kann Deutschland die Führungslücke schließen, die Amerika hinterlassen hat? Die Verhandlungspartner haben jede Menge Arbeit vor sich. Woody Allen sagte einmal, dass sich blicken zu lassen schon 80 Prozent des Erfolgs ausmacht. Die Welt will jetzt wissen, ob sich Deutschland blicken lässt, wenn es um die Führung geht.

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