SZ-Interview:"Heute kommt es auf die Persönlichkeit des Lehrers an"

SZ-Interview: Zu einem glücklichen Leben führen mehr Wege als nur jener über die Hochschulreife: Stefan Ambrosi, Leiter der Johann-Andreas-Schmeller-Realschule (links), und Markus Martini, Rektor des neuen Ismaninger Gymnasiums, wollen die gute Zusammenarbeit der Schulen am Ort pflegen.

Zu einem glücklichen Leben führen mehr Wege als nur jener über die Hochschulreife: Stefan Ambrosi, Leiter der Johann-Andreas-Schmeller-Realschule (links), und Markus Martini, Rektor des neuen Ismaninger Gymnasiums, wollen die gute Zusammenarbeit der Schulen am Ort pflegen.

(Foto: Robert Haas)

Stefan Ambrosi und Markus Martini haben im vergangenen Jahr die Leitung der Realschule und des Gymnasiums in Ismaning übernommen. Ein Gespräch über die Herausforderungen, die Ganztagsunterricht, Digitalisierung und gesellschaftlicher Wandel für sie und die Kollegen bedeuten

Von Irmengard Gnau, Ismaning

Die Ismaninger Schullandschaft hat zwei neue Gestalter. Stefan Ambrosi, 56 Jahre, kommt aus Dachau und hat zuletzt die Realschule im Tegernseer Tal neu aufgebaut. An der Johann-Andreas-Schmeller-Realschule ist er nun für 664 Schüler in 27 Klassen und mehr als 50 Lehrer verantwortlich. Sein Kollege Markus Martini ist Lehrer für Mathematik und Physik. Der 50-Jährige war zuletzt zwölf Jahre lang stellvertretender Schulleiter am Gymnasium Pullach, seit Sommer leitet er das neue Gymnasium Ismaning mit 271 Schülern in bislang drei Jahrgangsstufen.

SZ: Der Landkreis hat in den vergangenen Jahren einen beispiellosen Zuzug erlebt, vor allem auch von Familien. Welche Herausforderungen ergeben sich daraus für die Schulen - baulich und inhaltlich?

Ambrosi: Es besteht einfach eine Improvisationsnotwendigkeit. Pläne, die man meint, in Stein gemeißelt zu haben, erweisen sich schnell als relativ bröselig (lacht). Hier im Haus waren zum Beispiel ursprünglich 23 Klassenzimmer geplant - bei nun 27 Klassen sind inzwischen einige Fachräume umfunktioniert worden. Man muss da einfach reagieren. Vor einem Jahr hatten wir hier noch das Fachraumprinzip. Das heißt: Der Lehrer bleibt in einem Raum, während die Schüler wandern. Weil die Klassen aber unterschiedlich groß sind, war das irgendwann nicht mehr zu organisieren, deshalb haben wir auf das Klassenraumprinzip umgestellt. Das wurde zum Glück sehr gut angenommen.

Martini: Bei uns ist es ähnlich: Obwohl wir noch im Aufbau sind, sind wir teils schon wieder am Umschmeißen. Spannend wird es jetzt, wenn wir im kommenden Jahr noch die Übergangsklassen des Gymnasiums in Unterföhring bei uns aufnehmen.

Auch das bayerische Schulsystem ist in den vergangenen Jahren kräftig durcheinandergewirbelt worden, etwa durch die Umstellung aufs G 9 und die Frage nach Ganztagsbetreuung an Schulen.

Martini: Einige sagen, die Crux an den Bildungsreformen sei, dass das Bildungssystem dadurch nicht mehr zur Ruhe kommt. Ein profaner Effekt am G 9 ist für uns, dass wir einen größeren Raumbedarf haben, außerdem wird an den Konzepten manches geändert. Ich bin heilfroh, dass man nicht beschlossen hat, an möglichst allen Gymnasien G 9 und G 8 nebeneinander anzubieten. Das wäre organisatorisch der Overkill gewesen. Jetzt ist es im Wesentlichen ein G 9 mit Abkürzungsmöglichkeiten, damit wird man gut zurechtkommen, denke ich.

Ambrosi: Für die Realschule als Schulart war die Umstellung auf die Sechsstufigkeit Anfang der 2000er-Jahre ein großes Glück. Durch die verschiedenen Zweige können wir den unterschiedlichen Begabungen und Bedürfnissen der Schüler besser Rechnung tragen. Mit dem Angebot von offener und gebundener Ganztagsschule sind wir jetzt insgesamt sehr gut aufgestellt, denke ich.

Was waren die wichtigsten Veränderungen in den vergangenen Jahren?

Martini: Ich glaube, die wertvollste Veränderung für Eltern und Schüler war, dass man wesentlich mehr Übergangs- und Weiterführungsmöglichkeiten geschaffen hat. Damit steht der Einzelne nicht mehr so unter Druck, dass er vielleicht eine Entscheidung trifft, die er zwei Jahre später bereut, sondern er hat die Möglichkeit, dennoch seinen Weg zu finden. Die Diskussion um G 8 und G 9 hat auch die Realschule deutlich beeinflusst, weil viele Eltern für ihre Kinder entschieden haben: Der Weg über die Realschule kann auch zur allgemeinen Hochschulreife führen, also nehme ich doch den statt das verkürzte G 8.

Ambrosi: Im Bewusstsein der Gesellschaft sind diese Übergangsmöglichkeiten nur leider noch nicht so angekommen. Der Druck auf Kinder, Eltern und Lehrkräfte in der dritten, vierten Klasse ist leider nach wie vor groß. Da wäre etwas mehr Gelassenheit gut, das Bewusstsein, dass viele Wege zur Hochschulreife führen können.

Martini: Und noch mehr zu einem glücklichen und gelungenen Leben!

Ambrosi: Was mich in dieser Debatte traurig stimmt, ist, dass die Bemühungen und Leistungen der Mittelschule manchmal ein wenig untergehen. Wenn wir ein differenziertes Schulsystem anbieten wollen, dann gibt es eben auch Kinder, die nicht für jede Schulart geeignet sind. Aber leider wird diese Feststellung oft mit einem fast schon moralischen Urteil verbunden, dass diese Kinder dann nicht viel wert seien - das ist ein ganz übler Umstand.

Welche Bedeutung hat Schule heute?

Martini: Schule ist zunächst einmal für den Schüler eine Lebenswelt. Sie nimmt ja nicht nur den Raum ein, den er leibhaftig in der Schule ist, sondern bestimmt auch seinen sonstigen Alltag: die Zufriedenheit seiner Umgebung mit ihm, seine Kontakte zu Gleichaltrigen.

Ambrosi: Hinzu kommt der Leistungsgedanke, der auch zum Wesen der Schule in unserer Gesellschaft gehört. Gerade für die Realschule gilt ja, wir bilden nicht nur allgemeinbildend aus, sondern auch berufsbildend.

Martini: Schule bietet heute außerdem ein breites Angebot von dem, was möglich ist. So sehr der Schüler vielleicht in manchen Phasen damit hadert, dass er in verschiedenen Fächern etwas tun muss, obwohl ihm doch vielleicht nur Sport Spaß macht, sollte das ein Gewinn sein: Er kann erkennen, in welche Richtung seine Interessen und Begabungen gehen und zugleich eine breite Bildung erhalten.

Ambrosi: Und dann hat Schule natürlich etwas mit Erziehung zu tun, dieses Auftrags müssen wir uns bewusst sein. Kinder sind uns anvertraut. Werte und Bildungsideale wie das Gute, Wahre und Schöne und Achtung vor anderen werden in einer Zeit wie heute noch einmal interessanter. Natürlich sind das die Ideale der Klassik und der Aufklärung, aber ich erkenne nicht, was daran heute falsch sein soll. Und den Bedarf sehe ich.

Martini: Das ist ja auch das, was wirklich langfristig trägt. Wir brauchen uns nicht einzubilden, dass wir einem Kind irgendetwas beibringen - außer Lesen, Schreiben, Rechnen vielleicht - das ihm unmittelbar in seinem Beruf in 35 Jahren noch hilft. Aber die grundsätzlichen Erkenntnisse zum Beispiel zu ethischen Fragen oder zu Fragen der Kommunikation, was wir an Kompetenzen im Hintergrund vermitteln, das trägt ein Leben lang. Das ist für mich auch eine wichtige Gegenthese zur Forderung, dass die Schule eine ganz bestimmte Kompetenz, die gerade aktuell ist, jetzt bitte ganz schnell vermitteln soll - das ist zu kurzfristig gedacht für Schule. Wir bilden hier Kinder und Jugendliche und wollen ihnen fürs Leben etwas mitgeben.

Wo sehen Sie da die größten Herausforderungen aktuell?

Ambrosi: In der Digitalisierung. Vor allem hinsichtlich der Entscheidungen auf der Metaebene und im ethischen Bereich, also: Wie gehe ich mit diesen technischen Neuerungen in allen Bereichen des Lebens um, wie bestimmen Sie mein Menschenbild, mein Rollenbild als Mann und Frau, als Gesellschaftsmitglied? Und was bedeutet die Digitalisierung für meine Selbstwirksamkeit? Das ist, glaube ich, einer der Schlüsselbegriffe für unsere Kinder, dass sie sich als selbstwirksam empfinden, spüren, dass ihre Entscheidung einen Effekt hat. Damit müssen wir uns auch an der Schule beschäftigen. Denn wir können das Rad nicht mehr zurückdrehen. Der Bolzplatz oder der Marktplatz, an dem sich frühere Generationen getroffen haben, findet jetzt bei Whatsapp und Snapchat statt.

Was bedeutet es für den Beruf des Lehrers, wenn Schule einen so großen Teil der Lebenswelt der Kinder einnimmt?

Ambrosi: Es wird oft unterstellt, dass Lehrer sich früher ausschließlich als Wissensvermittler gesehen haben. Das habe ich so nicht erlebt, aber vielleicht war die erzieherische Seite früher zumindest nicht so gefragt. Es reicht halt jetzt wirklich nicht mehr, nur rein zu gehen und meine Vokabeln zu vermitteln und dann wieder raus zu gehen. Ich muss als Person sichtbar werden. Die Beziehung zwischen Schüler und Lehrer ist wichtig für den Lernerfolg. Hinzu kommt natürlich, dass sich die Lebenswelten der Familien geändert haben. Auch Vereine und Kirchen werden nicht mehr so als Ko-Erzieher wahrgenommen. Schule ist häufig die Hauptstruktur, dem müssen wir uns stellen.

Martini: Früher waren es Kinder vielleicht auch noch mehr gewöhnt, sich einzupassen in ein Gefüge. Darunter hat manche Persönlichkeit gelitten, mit Gerechtigkeit oder Demokratie hatte das vielleicht auch nicht viel zu tun. Das hat heute abgenommen, mit allen Konsequenzen für die Schule. Heute kommt es auf die Persönlichkeit des Lehrers an, nicht auf seine Amtsautorität. Wenn diese Strukturen - ich bin oben, du bist unten - nicht mehr automatisch gesetzt sind, ist es für den Lehrer natürlich aufwendiger, in den Erziehungsprozess einzugreifen. Aber es kommt auch etwas Besseres dabei heraus.

Ambrosi: Ich halte das auch für unabdingbar, wenn man den Gedanken der Selbstwirksamkeit der Kinder unterstützen will.

Sind die jungen Kollegen, die nachkommen, gut auf diese Aufgaben vorbereitet?

Martini: Dass Leute naiv in den Beruf hineingehen, nach dem Motto "Als Lehrer habe ich vormittags Recht und nachmittags frei", das passiert heute, glaube ich, nicht mehr.

Ambrosi: Man merkt auch, dass junge Kollegen viele tolle Anlagen mitbringen. Ich glaube, dass sich da insgesamt das Bewusstsein gewandelt hat und die Bereitschaft groß ist, sich zu engagieren.

Martini: In Summe muss man freilich sagen, ist das Arbeitspensum des Lehrers immer größer geworden. Wir gehen heute ja zum Beispiel auch viel individualisierter um mit Lese-Rechtschreibschwächen und ähnlichem.

Was haben Sie sich selbst noch für ihr erstes Schuljahr in Ismaning vorgenommen?

Martini: Eine menschliche, zugewandte, aber auch leistungsbereite und -fähige Schule aufzubauen. Das ist für alle Beteiligten ein großer Aufwand, aber ich bin sehr zuversichtlich, dass wir es schaffen.

Ambrosi: Ich möchte die gute Arbeit an der Schule weiterführen und die Erziehungspartnerschaft - ich sage bewusst Partnerschaft - mit den Eltern pflegen. Und immer wieder das Bewusstsein dafür schärfen, dass man aufeinander aufpassen muss, dass Kinder uns anvertraut sind auf mehreren Ebenen, und nicht zuletzt dass wir als Realschule am Schluss auch daran gemessen werden, dass wir unsere Schüler auf das Berufsleben vorbereiten, darauf, dass sie ihr Leben in die eigenen Hände nehmen können.

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